Neulich hatte eine Katze Zahnfleischentzündung. Die Tierärztin fürchtete, es sei FORL, eine Zahnerkrankung bei Katzen, die erst kürzlich beschrieben wurde. Als normale Therapie schlug die Tierärztin vor, die Katze in Narkose zu legen, die Zähne zu untersuchen und die befallenen Zähne zu ziehen.
Gesagt, getan. Die Katze wurde narkotisiert und die hintersten Backenzähne wurden gezogen.
Inzwischen hatte ich über FORL nachgelesen – zum Beispiel im verlinkten Wikipedia-Artikel – und stellte fest: FORL liegt nur vor, wenn eine chronische Zahnfleischentzündung mit kariesartigem Substanzabbau der Zähne zusammenkommt. Beide Symptome fördern möglicherweise einander und daher ist es sinnvoll, den „Teufelskreis“ zu durchbrechen, indem die kranken Zähne gezogen werden. FORL ist ein Syndrom, also eine Erkrankung, bei der verschiedene Symptome gleichzeitig vorliegen, ohne, dass der Zusammenhang oder die Ursache klar ist. FORL liegt also per Definition nur vor, wenn die Zähne und das Zahnfleisch angegriffen sind.
Allerdings waren die gezogenen Zähne in diesem Fall absolut in Ordnung.
Die Tierärztin ließ sich – leider – nicht darauf ein, dass sie möglichweise eine falsche Diagnose erstellt hatte. Chronische Zahnfleischentzündung (Gingivitis) an sich ist vielmehr ein klassisches Verdachtsmoment für Nieren- oder Lebererkrankungen. Daher hätte man der etwas unhandlichen und wehrhaften Katze durchaus in der Narkose Blut abnehmen und die für Nieren und Leber einschlägigen Werte untersuchen können.
Nein, das sei zwecklos bei FORL, meinte Frau Doktor. Wie sehr sie daneben lag kann im Wikipedia-Artikel unter der Überschrift Differenzialdiagnose nachgelesen werden, Differenzialdiagnose ist sozusagen ein Schraubenschlüssel im Werkzeugkasten jedes Mediziners, um ähnliche Krankheiten voneinander abzugrenzen.
Obwohl mein Vertrauensverhältnis zu dieser Tierärztin jetzt gestört ist, sehe ich Tierärzten Fehldiagnosen meistens nach. Schließlich haben sich nur die wenigsten auf bestimmte Tierarten oder bestimmte Erkrankungen spezialisiert und könne daher gar nicht alles aus der Pistole geschossen richtig machen.
Aber leider sind auch Humanmediziner oft nicht anders. Gerade bei Syndromen.
Nicht jedes Syndrom hat so eindeutige, einmalige und weder herbei- noch wegdiskutierbare Symptome wie z.B. das Tourette-Syndrom. Gerade als Psychotherapeut hat man es oft mit sehr viel schwieriger zu diagnostizierenden Erkrankungen zu tun.
Nehmen wir mal ADHS, das Aufmerksamkeitsdefizits-Hyperaktivitäts-Syndrom. Die Diagnose von ADHS ist gar nicht so einfach:

Eine Diagnose sollte sich auf Informationen aus unterschiedlichen Quellen stützen, da ein einzelner Test nicht die komplette Differentialdiagnostik abdecken kann. Zur grundlegenden Diagnostik gehören daher neben der Befragung des betroffenen Kindes, der Eltern/Erzieher und Lehrkräfte auch eine gründliche psychologische Testdiagnostik, eine neurologische Untersuchung sowie Verhaltensbeobachtung.

Eine retrospektive Diagnose – also die Frage, ob das Kind bestimmte Verhaltensauffälligkeiten während der letzten 6 Monate kontinuierlich zeigte – ist so gut wie unmöglich. Das ist wie mit einem bestimmten Automodell in einer bestimmten Farbe: Solange man es nicht selber besitzt fällt es meist im Straßenverkehr gar nicht auf. Aber wenn man den Wagen dann selber fährt, sieht man an jeder Ecke ein gleichartiges Fahrzeug.
Zur seriösen ADHS-Diagnose ist daher eine über Monate fortgesetzte tagebuchähnliche Aufzeichnung durch Eltern und Lehrer/Erzieher erforderlich.
Aber nur zu leicht diagnostizieren Kinderärzte ADHS ohne eine solche Untersuchung und erkennen dadurch in der Differenzialdiagnose nicht, dass etwas ganz anderes vorliegt. Manchmal werden Kinder als ADHS-ler abgestempelt, dabei sind sie hochbegabt und könnten mit der richtigen Förderung statt Ritalin sehr erfolgreich in der Schule und im Leben sein.
ADHS ist nicht das einzige Syndrom, das übewiegend bei Kindern fehldiagnostiziert wird. Und nicht nur von Ärzten.
Nehmen wir das Kanner-Syndrom, auch als frühkindlicher Autismus bekannt.
Die großen Leitsymptome des Kanner-Syndroms sind:

  • qualitative Beeinträchtigungen wechselseitiger sozialer Aktionen,
  • qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation,
  • eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster,
  • Beginn der Erkrankung vor dem dritten Lebensjahr

Ein dreijähriger Junge zum Beispiel wurde vom Kinderarzt zum Logopäden geschickt, weil er in seiner sprachlichen Entwicklung zurückzuhinken schien. Er war meist recht wortkarg – solange er sich nicht für etwas begeisterte – und sprach für sein Alter eher verwaschen und nuschlig. Er plapperte jedoch wie ein Wasserfall, wenn es um Autos, Kräne und Baufahrzeuge ging.
Die Logopädin bat die Mutter einmal nach einer Therapiestunden mit dem Kleinen kurz zu sich.
Es könne durchaus um Frühkindlichen Autismus, also das Kanner-Syndrom handeln.
Es ist gut, dass Logopäden keine Diagnosen stellen dürfen, denn sie lag falsch. Wie man an den Symptomen des Kanner-Syndroms sieht, ist die „qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation“ nur eines von vier Symptomen, die vorliegen müssen. Wichtig und für den Begriff „Autismus“ Namensgebend ist die qualitative Beeinträchtigungen wechselseitiger sozialer Aktionen. Und die konnte die Logopädin genauso wenig beurteilen, wie eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster. Beides lag nicht vor, der Junge war im Kindergarten zwar etwas dominant, aber seine Sozialkontakte ansonsten unauffällig. Und seine Begeisterung für alles, was Räder hat und Krach macht ist kein Hinweis auf eingeschränkte Interessen, dann wäre jeder Fußballfan auch Autist. Er war definitiv kein Rain Man, die Mutter jedoch zunächst am Boden zerstört.
Einen ähnlichen Fall konnte ich erleben, als ein 15jähriger von einem Pädagogen „ganz sicher“ als Asperger-Autist erkannt wurde.
Im Gespräch mit der Mutter wurde klar, dass von den Diagnosekriterien nach Gillberg und Gillberg nur einige der sprachlichen Besonderheiten zutrafen – genau genommen nur eine: beeinträchtigtes Verständnis einschließlich Fehlinterpretationen von wörtlichen/implizierten Bedeutungen. Völlig fehlten ein perfekter sprachlicher Ausdruck oder eine formelle, pedantische Sprache. Auch die Körpersprache war nur deshalb auffällig, weil er in seiner Kommunikation ein perfektes Double von SIDO oder Bushido abgegeben hätte.
Sicher, seine Kontakte zu Gleichaltrigen waren eingeschränkt, was aber nicht daran lag, dass er kein Interesse daran hatte. Sobald er angesprochen wurde, war er offen, aber durch seine Probleme, Bildsprache (z.B. Metaphern) zu verstehen, hatte er lieber Kontakt zu jüngeren und Erwachsenen (die ihn eher respektierten als pubertierende Teenager).
Wie wäre es also, wenn wir alle beim Verdacht auf ein Syndrom erstmal den Mund halten, tief durchatmen und im Stillen eine Differenzialdiagnose machen?
ADHS, Kanner-Syndrom, Asperger-Syndrom – die machen den Eltern und Betroffenen Angst.
Auch ein Logopäde oder eine Spezialpädagogin kann sich mit dem überweisenden Arzt kurzschließen und den Verdacht auf eines der Syndrome erörtern. Notfalls schreibt man ein paar Zeilen mit den Diangnoseschlüsseln aus dem ICD-10 und lässt sie dem Arzt überbringen.
Alles andere steckt Kinder und erwachsene Patienten zu schnell in Schubladen, in die sie nicht gehören, schickt Kinder, die auf der Regelschule nicht klar kommen, auf Förderschulen, die sie gerade nicht fördern.
Gerade bei Kindern stellt man so schnell und unnötigerweise Weichen auf Abstellgleise.