Wissenschaftler stellt man sich in der Realität anders vor, als den durchgedrehten Professor aus Independence Day oder den charismatischen Chaosforscher aus Jurassic Parc. Eher nüchtern, sachlich und emotionslos, aber voller Leidenschaft für ihr Thema.
Ich weiss nicht, ob es an den Social Media liegt, oder ganz andere Gründe hat, dass derzeit Diskussionen unter und mit Wissenschaftlern immer wieder auf Schlammschlachtniveau abrutschen. Vielleicht sind es die Social Media wie Facebook, Twitter, Wikis und Blogs, die dafür sorgen, dass ansonsten hinter verschlossenen Türen abgehaltene Streitigkeiten öffentlich werden.
Vielleicht werden manche Konflikte auch überhaupt erst spürbar, weil heute im Internet jeder ohne große Prüfung durch einen Redakteur publizieren darf. Dadurch kommen natürlich nicht nur unterdrückte kritische Meinungen und Informationen erstmals ans Tageslicht, sondern auch abstruse Ansichten, die früher völlig zu Recht keine Publikationsplattform gefunden hätten.
Eine aktuelle Schlammschlacht picke ich mir mal heraus – es gibt tatsächlich noch mehr entsprechende Themenfelder.
Also die Sache mit dem LHC. Der Large Hadron Collider des CERN.
Es gibt nach wie vor Wissenschaftler (und damit meine ich echte Wissenschaftler und keine von Dänikens), die ein Risiko für den ganzen Planeten durch die erhoffen Schwarzen Löcher sehen.
Zuletzt veröffentlichte Professor Rössler – ein renommierter Chaosforscher mit weit über 300 wissenschaftlichen Publikationen – seine Thesen im Magazin telepolis, für das ich auch schon schreiben durfte.
Er geht dort sehr sachlich auf die seiner Meinung nach falsche Risikoeinschätzung der CERN-Wissenschaftler ein und unterfüttert dies mit einigen Theorien und Theoremen. Er selber fordert eine wissenschaftliche Konferenz, in der er sich gerne widerlegen lassen möchte:

Ich bitte daher eines der oben angerufenen juristischen und politischen Gremien anzuordnen, dass die längst überfällige wissenschaftliche Sicherheitskonferenz stattfindet, bevor das LHC-Experiment mit Protonen wie vorgesehen im Februar oder März 2011 wieder aufgenommen werden darf. […]
Ich rechne damit, dass ich mich furchtbar blamiere, wenn es doch noch einem Wissenschaftler gelingt, einen einzigen der eingangs angeführten 10 Punkte oder eines der 4 Theoreme zu widerlegen. Dies ist mein Risiko und zugleich meine Hoffnung. Ich bitte die Welt um Verzeihung dafür, dass ich darauf bestehe, dass mein möglicherweise defizitärer Wissensstand zurechtgerückt wird, bevor das größte Experiment der Geschichte weitergehen darf.

Das klingt sehr leidenschaftlich, wenn auch sachlich. Er fordert nicht, den LHC zu sprengen, sondern stellt seine Ansichten zur Diskussion und fragt sich, warum seine Kritikpunkte nicht öffentlich diskutiert würden, da nur ein einziger widerlegt werden muss, um seine Konstruktion zerfallen zu lassen.
Der Wissenschaftsjournalist und „LHC-Befürworter“ (ich verkürze das an dieser Stelle) Dr. Harald Zaun schreibt am selben Tag mit Bezug auf Prof. Rösslers Ausführungen, dass die Sicherheitskonferenz sinnvoll sei, auch, wenn er selber die Ansichten Rösslers für absurd hält, denn es wäre nicht das erst Mal, dass ausgerechnet die Theorie, die sich am Ende als richtig herausstellte, zunächst hämisch beäugt und spöttisch kommentiert wurde.
Der Astrologe Florian Freistetter, der auf ScienceBlogs schreibt, kommentierte die Veröffentlichungen auf telepolis.
Ich will bewusst nicht auf die Inhalte eingehen. Ich bin kein Astrophysiker oder Astronom und kann das gar nicht, so wie es 99% der Menschen nicht können. Es ist so, dass es auf diesem Planeten eine Menge Menschen gibt, die Angst vor „der Wissenschaft“ haben, ohne gleich pathologisch paranoid zu sein. Eine immerhin sachliche Veröffentlichung wie die von Rössler, mit dem ausgesprochenen Wunsch, widerlegt und blamiert zu werden, wirkt ehrenvoll.
Freistetter argumentiert, dass einige der Theoreme Rösslers bereits widerlegt seien und andere einfach auf falscher Anwendung z.B. der Allgemeinen Relativitätstheorie fußen. Er widerspricht der Ansicht Harald Zauns, dass jede noch so abstruse Idee von Wissenschaftlern untersucht werden müsse:

Ach wirklich? Jede „noch so abstruse Idee“ muss von den Wissenschaftlern untersucht werden? Selbst wenn alle Daten, Beobachtungen und Theorien dagegen sprechen? Wie stellt sich Herr Zaun das vor? Jeder Freak kann die Unis anrufen und seine persönliche Lieblingspseudowissenschaft vorstellen. Und die Wissenschaftler müssen dann alles stehen und liegen lassen und den Unsinn „von allen Seiten gründlich durchleuchten“?

Er fängt mit Rabulistik der feinsten Sorte an: Zaun sprach in seinem Artikel von Wissenschaftlern und nicht von Paranoikern, die glauben, Nachbarn wollten sie durch die Steckdose mit Giftgas töten (eine unter psychisch Kranken übrigens verbreitete Angst). Und Freistetter ignoriert das, unterstellt Zaun, er fordere, dass „Jeder Freak“ irgendwelche Theorien aufstellen könne, die denn von armen, geplagten Professoren widerlegt werden müssen. Gleichzeitig versucht er, Zaun zu diskreditieren:

Ok, Herr Zaun ist Wissenschaftsjournalist. Aber wenn man sich unsicher ist ob die „gemachten Annahmen plausibel sind“, dann hätte man ja theoretisch auch mal einen Teilchenphysiker fragen können anstatt einen Journalisten.

Ok, Florian Freistetter ist Astronom. Und hat promoviert. Harald Zaun hat auch einen Doktorgrad. Und auch, wenn Freistetter thematisch näher an Teilchenphysik „dran“ ist, als der Historiker und Philosoph Zaun, ist auch er als Blogger erstmal nichts anderes als ein Wissenschaftsjournalist, wenn er die Astronomie verlässt.
Und als ob das nicht reicht, stellt er noch einige abstruse Ideen in den Raum:

„Im Inneren des Mondes wohnen Nazis die die Erde mit Gedankenstrahlen beeinflussen“. „Nervengas furzende rosa Drachen werden aus dem Inneren der Erde hervorbrechen und uns alle töten!“. „Die Gravitationskonstante wird sich spontan ändern und alle Materie wird auseinander fallen.“

Das ist übelstes Stammtischniveau und ich frage mich, welchen Zweck diese Beispiele haben sollen, wenn nicht den, Häme über Rössler zu ergießen.
Ok, wäre Rössler ein Erich v. Däniken oder Johannes v. Buttlar – dann würde ich mich nicht aufregen.
Es geht nicht um einen abgedrehten Freak, sondern um einen ordentlichen Hochschulprofessor mit weit über 300 wissenschaftlichen Publikationen. Auch, wenn seine Theorien längst widerlegt sind und sein Erdvernichtungsszenario daher bar jeder Grundlage – die von ihm geforderte Sicherheitskonferenz mit angemessener Öffentlichkeitsarbeit und sachlicher Diskussion der Ergebnisse ist meines Erachtens die einzige Möglichkeit, seine Argumente für die Öffentlichkeit zu entkräften.
Schenkelklopfer wie der Florian Freistetters Blogpost helfen nicht dabei, Menschen mit Angst vor dem LHC diese zu nehmen. Die Kluft zwischen den Lagern der „Wissenschaftsgläubigen“ und der „Wissenschaftsparanoiker“ wird nur größer, weil die ersteren augenrollend „nicht schon wieder Rössler“ murmeln und die letzteren sich „die haben Angst vor der Diskussion, weil sie um Unrecht sind“ zutuscheln.
Bravo.