Die Realität besteht nicht nur aus 0 und 1, aus Schwarz und Weiss, aus Richtig und Falsch. Sie ist komplex und es gibt Dinge, die genauso richtig wie zugleich falsch sind. Beispielsweise beim Umgang mit „der Burka“.

Stellen wir uns einmal – rein hypothetisch – vor, wir leben in einer Kultur und Gesellschaft, in der das öffentliche Entblößen der primären Geschlechtsorgane verpönt ist. Sie werden daher durch Kleidung verhüllt.

Nun kommen wir in Kontakt mit einer Kultur und Gesellschaft, in der die primären Geschlechtsorgane offen gezeigt werden, Männer tragen bei entsprechenden Anlässen sogar ein Penisfutteral, das den Penis zwar bedeckt, aber seine Existenz farbenfroh hervorhebt.

Hand aufs Herz – wie würden wir uns fühlen? Würden wir auch entspannt die Hose runterlassen? Oder wäre es unter Umständen plausibel, dass zumindest ein Teil der Menschen, die in unserer Kutur aufgewachsen sind, sich ungeschützt und verletzlich vorkämen?

Wir sind durch die andere Ethnizität als Fremde erkennbar, werden daher eher mal genau betrachtet als Einheimische. Offenbart man in dieser Situation ernsthaft locker und entspannt etwas, das daheim als Kern der Intimsphäre gilt?

Der Ursprung der islamischen Kleidungsvorschriften für Frauen findet sich offenbar in der Sure Vers 33, 59:

O Prophet, sprich zu deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, dass sie sich in ihren Überwurf verhüllen. So werden sie eher erkannt und werden nicht verletzt. (nach der Übersetzung von Max Henning [amazon_link asins=’3868200835′ template=’MyProductLink‘ store=’olk02d-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’14ef8a22-8d8c-11e7-8997-efa9e18dc279′])

Tatsächlich war es zu der Zeit, in der Mohammed diesen Vers formulierte, so, dass Frauen in der Medina sexuell belästigt wurden, weil sie offenbar nicht eindeitug von Sklavinnen zu unterscheiden waren. Aus diesem Vers leiteten sich in den folgenden Jahrhunderten die religiösen Kleidungsvorschriften vom Kopftuch bis hin zur Burka ab.

Diese Regeln existieren in islamischen Kulturen heutzutge parallel, teilweise sogar innerhalb einer Kultur. Ich sah vor Kurzem ein Bild aus Afghanistan, auf dem eine Gruppe Frauen anscheinend auf einer religiösen Veranstaltung die (typisch blaue) Burka trug und in ihrer Mitte, völlig unbeachtet, eine junge Frau mit einem geblümten Kopftuch stand.

Überhaupt sollte man sich, wenn man en Burkaverbot fordert, mit den verschiedenen Gewändern und Schleiern mal auseinandersetzen. Denn die Burka ist eben nicht der Hidschãb und auch kein Tschdor.

Religiös (und kulturell) werden die Kleidungsvorgaben vom Kopftuch bis zur Burka als Schutz dargestellt und gelehrt. Frauen lernen seit ihrer Kindheit, dass Männer ihre Penisse nicht unter Kontrolle haben, wenn Frauen sich nicht an die Kleidervorschriften halten.

Der zudringliche Mann, der Vergewaltiger, ist quasi das Monster unter dem Bett, die Quelle einer irrationalen Angst, die man nicht rational wegdiskutieren kann. Selbst, wenn man mit Statistiken belegen könnte, dass es in Deutschland ohne diese Kleidungsvorschriften auch nicht mehr Vergewaltigungen gäbe als in irgendeinem islamisch geprägten Land – die Angst bleibt, da sie eben irrational ist.

Religiöse Vorschriften dienen nun aber sehr oft auch der Machtausübung, und auch die Bekleidungsvorschriften sind, insbesondere bei den Ganzkörperkleidern wie Burka und Nihab (bzw. Niqab oder Nikab), zur patriarchalen Machtausübung zumindest missbraucht worden.

Burka und Nikab stehen für einen illiberalen und reaktionären Islam, der Frauen unterdrückt. Der Stoffkäfig degradiert Frauen zu gesichtslosen Wesen, er lässt sie aus dem öffentlichen Raum verschwinden – denn den sollen bitteschön die Männer dominieren. (Quelle: taz)

Das bringt mich in eine Zwickmühle.

Einerseits sehe ich in einer Frau, die einen Niqab trägt, ein Opfer einer patriarchalen Unterdrückung, das aus dieser zu befreien ist. Andererseits sieht sie sich, selbst, wenn sie hier in Deutschland lebt, höchstwahrscheinlich nicht als Opfer, sondern trägt die Kleidung bewusst und zum Schutz, damit sie eben kein Opfer wird.

Wie im hypothetischen Beispiel oben: In ihrer Kultur gelten Haar, Schmuck Haut und Gesicht als Teile der Intimsphäre, die man eben nicht in der Öffentlichkeit preisgibt. Ein „Burkaverbot“ würde dazu führen, dass sie (egal, wie ihr Mann das sieht) das Haus nicht mehr verlassen und damit ihre immerhin kleine Chance  auf Kontakt mit unserer Kultur und Emanzipation verlöre.

Der Stoffkäfig würde zum Steinkäfig.

Tatsache ist, dass die Emanzipation islamischer Frauen nicht durch die Kleidung erzwungen werden kann. Die Kleidung ist Symptom eines Patriarchats, nicht Ursache. Die Ursachen können nur einen gesellschaftlichen Konsens ausgeräumt werden, indem Frauen mit Kopftuch, Tschador oder Niqab (denn Burkas gibt es in Deutschland so selten, dass sie tatsächlich keine Rolle spielen) aufnimmt statt sie auszugrenzen.

Natürlich gibt es Grenzen. Im Staatsdienst sind sichtbare Bekenntnisse zu einer Religion meiner Meinung nach ein No-Go, da der Staat zumindest pro forma säkular sein will, aber darum geht es in den aktuellen Diskussionen nicht.

Wir sollten es (wie so oft) so halten, wie Antje Schrupp es formuliert, denn ich empfinde das ganz genauso wie sie:

Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der ständig öffentlich darüber verhandelt wird, was Frauen (nicht) anziehen dürfen, und wie das am besten gesetzlich zu regeln ist. Was Frauen anziehen, geht die Gesellschaft, den Staat, die Männer und im übrigen auch andere Frauen einen feuchten Kehricht an. (Quelle: Fisch und Fleisch)

Kategorien: Allgemein

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