Manchmal braucht es für ein Thema einen Aufhänger. Dieser Blogeintrag befasst sich mit so einem Thema.
Es hätte dieses Jahr schoneinmal einen Aufhänger gegeben, aber als ich davon erfuhr, war mir nicht nach Schreiben. Jetzt hatte ich grade zwei Aufhänger. Es geht um Krankheiten und Suizid. Natürlich hängt es mit dem Selbstmord von Robert Enke zusammen, aber der eine „Aufhänger“ ist ein Blogpost von Enno. Er bemängelt in er Berichterstattung um den Suizid des Torwarts, dass nach dem tragischen Suizid lediglich die Depressionen der Erfolgreichen und Prominenten für die Medien berichtenswert geworden sind:
Ich habe nur eine Frage an die Redaktionen: Wo bleibt die Geschichte des einfachen Arbeitnehmers, welcher zusätzlich zum Schicksalsschlag Depression nach Monaten in der Psychiatrie keine Arbeit mehr findet und den Rest seines Lebens als Aussortierter von Hartz IV vegetiert, wenn er sich nicht doch das Leben nimmt? Ich frag ja nur…
Recht hat er.
Ich kenne einen solchen Fall. Einen ganz normalen Jungen von Nebenan, der nach einer langen Erkrankung in einer depressiven Phase Suizid begehen wollte. Und über den ich schon länger etwas schreiben wollte.
Der zweite Aufhänger war die Aussage einer Freundin:
„Eigentlich hatte er ja Glück“
– und ein einfacher, kleiner Tweet, den ich wenige Minuten später sah:
Was war passiert?
Ein Bekannter von mir – ich kenne ihn von Parties, wir sind locker befreundet und mailten, telefonierten und SMSten gelegentlich – leidet unter dem Gilles-de-la-Tourette-Syndrom. Im Gegensatz zu den meisten Patienten traten die Beschwerden – vokale und motorische Tics – offenbar als Nebenwirkung eines Medikamentes von einem Tag auf den anderen in starker Form auf. Vorher war er beschwerdefrei. Hatte keine Tics.
Die meisten Patienten entwickeln die Tics langsam über einige Jahre. Oft fängt es in der Pubertät an, in vielen Fällen lernen die Patienten, ihre Tics teilweise auszutricksen. Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem der Patient im Supermarkt dazu neigte, unkontrolliert in die Regale zu lagen und Waren aus dem Regal zu „fegen“. Er legte sich beim Einkaufen seinen Schlüsselbund auf den Kopf und balancierte ihn – dadurch konnte er diesen Tic austricksen. Einkaufen war zwar unsäglicher Stress für ihn, aber immerhin wieder möglich. Nicht austricksen konnte er den Tic, die Verkäuferin mit einem laut gerufen „Hallo Frau Fickerin“ zu begrüßen.
Mein Bekannter, nennen wir ihn mal zum Schutz seiner Identität Jürgen, hatte keine Zeit, seine Tics auszutricksen. Sie waren sofort da.
Einschließlich der Selbstverletzungen.
Der Patient, der sich den Trick mit dem Schlüsselbund ausgedacht hatte, zeigt im Fernsehen das Potenzial der Selbstverletzung, die vielen motorischen Tics innewohnt.
Er bereitete sich ein Baguette zu. Schnitt es zuerst mit einem großen Küchenmesser auf die halbe Länge. Dazu hielt er es mit der linken Hand auf dem Schneidebrett fest, der dazu passende Tic wollte das Messer spontan auf die Hand niederrasen lassen – er zog die Hand routiniert ein Wenig zur Seite und das Messer teilte das Brot. Dann schnitt er es auf, um es zu belegen – wie in einem Ninja-Film mit entsprechedem akustischem Tic dazu bewegte er das Messer ruckartig hinter seinen Kopf und fuhr schnell nach vorne, hätte dabei das Ohr getroffen, wenn er nicht wieder routiniert den Kopf zur Seite genommen hätte.
„Der Trick ist, dabei das Ohr nicht zu treffen.“
Bei Jürgen war das anders. Die Tics überforderten durch ihr massives Auftreten über Nacht seine Fähigkeiten, sie auszutricksen. Sie waren sofort in vollem Ausmaß da. In seinem Beruf – den ich hier auch nicht erwähne – hat er mit gefährlichen Apparaten zu tun, Maschinen, die schnell mal einen Finger, einen Fuß oder eine Hand amputieren können.
Er grunzte, quiekte, zuckte, sprang auf, gab sich Kinnhaken.
Er wurde berufsunfähig.
Seine Beziehung ging in die Brüche.
Er fügte sich Verletzungen zu.
Er verlor Gewicht – der Stoffwechsel ist durch die fehlgesteuerte Motorik sehr aktiv und er verbrennt viele Kalorien.
Zwei erfolglose Suizidversuche folgten.
Dann bekam er das Angebot, eine brandneue, mit einem chirurgischen Eingriff verbundene, Behandlungsmethode zu testen. Sie war nicht risikolos, aber er sagte sich: „Wenn ich bei der Operation sterbe ist das Ok, denn meine Suizidversuche waren ernst gemeint und ich würde einen weiteren unternehmen.“
Die Behandlung zeigte Erfolg. Jürgen blieb zwar arbeitsunfähig, aber die Selbstverletzungen gingen massiv zurück. Er konnte wieder am sozialen Leben teilnehmen, besuchte Parties. Tics waren noch da, besonders in Stresssituationen. Am Telefon meldete er sich mit ein einem unartikulierten Laut. Mails bestanden mitunter nur aus Buchstabensalat, wenn er auf die Tastatur schlug und zugleich den „Senden“-Knopf erwischte.
Aber er tanzte, und das gut. Seine Lebensqualität war immens gestiegen. Mehrere Jahre.
Bis diesen Sommer.
Zuletzt sah ich ihn im August auf einem Sommerfest. Er kam mit einer guten Freundin, zu der ich keinen Kontakt habe, und weil er ungewohnt früh wieder ging konnten wir auch nicht miteinander reden.
Was ich eigentlich wollte. Denn ich sah, dass er, der normalerweise umtriebige, kaum festzuhaltende, schlanke, große Mann, der auf jeder Party die erste Hälfte der Zeit brauchte, um alle Bekannten zu begrüßen, in einer Ecke saß, kein Bier trank sondern eine Cola, betrübt aussah. Und ausgesprochen viele Tics zeigte.
Jürgen sah nicht nur sehr, sehr niedergeschlagen, traurig, aus, sondern hatte auch ein blaues Auge. Was passiert war lag für mich auf der Hand. Auf eine SMS von mir ein paar Tage später (mit der ich Anrufe bei ihm ankündigte) kam keine Antwort.
Zwei Wochen später erfuhr ich, dass er im Koma läge, nach einem weiteren Suizidversuch. Die neue Behandlungsmethode hatte nach einigen Jahren in ihrer Wirkung erheblich nachgelassen.
Nun, er hat überlebt. Wird von Klinik zu Klinik verlegt. Man bastelt an der immernoch neuen Behandlungsmethode.
Eigentlich hat er ja Glück gehabt. Sagte eine gemeinsame Freundin.
Eigentlich.
Er wird so schnell nicht wieder auf Parties feiern. Er wird so schnell nicht mehr zum DJ gehen und einen Discofox ordern, um meine Tanzpartnerin beim Salsa abzuklatschen und mich frech anzugrinsen. Er wird so schnell nicht mehr hören, dass er ein toller Tanzpartner ist, wenn Frau sich erstmal an seine Töne gewöhnt hat.
Anders als eine schwere Krebserkrankung oder Multiple Sklerose oder ALS ist Tourette keine per se tödlich verlaufende Krankheit. Der Patient kann nicht quasi spirituell auf eine Erlösung hoffen. Er ist geistig gesund, in der Regel sogar flinker und aktiver als die meisten anderen Menschen.
Die Lebensqualität geht vor die Hunde. Das Leben. Der Körper. Und die Seele.
Kann man den Wunsch auf Erlösung verdenken? Wenn Medikamente nicht wirken, wenn Alternativen noch nicht existieren?
Ehrliche Antwort?
Ich habe keine. Einen Patienten würde ich zu retten versuchen. Ihm helfen, die Beschwerden zu ertragen. Bei einem Freund oder Bekannten? An seinem Geburtstag habe ich ihm gewünscht, dass das, was passiert, das richtige für ihn ist.
Das sollte man eigentlich jedem wünschen, aber ihm ganz besonders.
Nein. Ohne „eigentlich“.