Viele Menschen befassen sich gerade mit dem Urheberrecht und es gibt eine Reihe unterschiedlichster Ansichten. Den meisten gemein ist, dass sie Urheberrecht und Verwertungsrecht verwechseln. Was gerade auf Seiten der Content-Industrie (also primär der Verlage und Plattenlabels) nicht gesehen wird ist der Anschluss an neue Technologien, die sie durch ihr Beharren auf alten Rechtsmodellen ihrer Verwertungsrechte verpassen.
Heute las ich den Artikel von Malte Welding zum Thema. Seine Kernaussage:

Die Behauptung, das Internet sei Schuld, dass es Künstlern finanziell schlecht gehe, wäre dasselbe wie im Jahr 18hundertundeinpaargequetschte zu sagen, der Dichtkunst gehe es schlecht und schuld sei die Demokratie.

Touché.
Nehmen wir mal an, dass die Content-Industrie sich bei früheren technischen Revolutionen genauso verhalten hätte, wie sie es heute tun.
Im Jahre 1887 erfand Emil Berliner das Grammophon. Schallaufzeichnungssysteme gab es schon vorher, z.B. Edisons Phonographen, aber die Schallplatte konnte über eine Art Matrize repliziert werden. Diese Erfindung war für die Verbreitung von Musik ungefähr das, was Gutenbergs Buchdruck mit beweglichen Lettern für die Verbreitung von Schriften war.
Für die mit dieser Erfindung geborene „Content-Industrie“ und die Musiker selber war das Verfahren sicher: Das Grammophon kannte (noch) keine elektrische Verstärkung des Signals. Eine weitere Replikation schied aus technischen Gründen für Privatpersonen aus und so galt: Wer die Platte hören will muss dafür Geld auf den Tisch legen.
1923 gab es eine technische Neuerung. Die Elektrifizierung war fortgeschritten und es gab elektronische Verstärkersysteme. Gugliemo Marconi hatte schon längst den Funktelegraphen erfunden und den Nobelpreis bekommen, und inzwischen konnte man auch Töne über den Äther schicken. 1923 begann mit der Funk-Stunde Berlin das erste deutsche Radioprogramm.
Auf einmal konnten auch Menschen Schallplatten der Deutschen Grammophon hören, die nicht einmal ein Grammophon besaßen!
Die heutige Content-Industrie hätte sofort ihre Lobbyisten in die Parlamente geschickt. Ein Verbot, Schallplatten über den Rundfunk auszustrahlen, wäre die geringste Forderung gewesen.
Später, als dann die Schallplatten bessere Tonqualitäten boten und mit der aufwändigeren und qualitativ besseren Frequenzmodulation im UKW-Band auch bessere Tonqualität möglich wurde, hätte die Content-Industrie sich eventuell durchgerungen, die Ausstrahlung von Musik auf amplitudenmodulierten Bändern wie Kurz- und Mittelwelle zu genehmigen.
Die Konsequenz wäre gewesen, dass die Rechteverwerter nie zu einer wirtschaftlich so mächtigen Industrie hätten werden können, wie sie es heute sind.
Der Musikmarkt lebt von Innovationen. Diese müssen beworben werden, und die Ausstrahlung von neuer Musik im Radio ist die zwingende Voraussetzung dafür, dass die Musik auf Tonträgern gekauft wird.
Ohne das Radio als Massenmedium wären nie Hitparaden entstanden, die letztlich zur Verkaufswerbung dienen.
Und ohne das Radio (und später die Musiksendungen und -sender im Fernsehen) wären Plattenlabels wie Sony, Warner oder BMG nie zu so mächtigen Firmen geworden, weil sie keine Werbekanäle gehabt hätten.
Wir befinden uns gerade in der nächsten technischen Revolution durch digitale Medien und das Internet. Radiosender, die über den Äther ausstrahlen, werden immer unwichtiger. Ich selbst habe in meiner Stereoanlage ein Webradio installiert, das mir neben den spannenden und konzernunabhängigen „Sendern“ auch 1LIVE & Co per DSL und WLAN ins Haus liefert. Vielleicht werden Radiosender in ein paar Jahren nur noch im Auto und am Strand per UKW-Rundfunk gehört und streamen ansonsten ihre Programme ins Internet, wo sie weitaus interaktivere und individuellere Möglichkeiten haben, die wir heute noch gar nicht sehen.
Wenn die großen Unternehmen der Content-Industrie diesen Weg weiter nicht beschreiten wollen, wird ihr vielleicht das passieren, was am Ende des Perm den Dinosauriern geschah: Änderungen der Lebensbedingungen gaben kleineren, flexibleren und anpassungsfähigeren Säugetieren immense evolutionäre Vorteile.
Durch die steigenden Verkaufszahlen „virtueller Medien“ über Dienste wie iTunes und Napster werden die CD-Werke und Vertriebswege der großen Labels überflüssig, durch Social Media werden die herkömmlichen Marketingkanäle abgelöst.
Die Zahl der etablierten Musiker, die Musik digital sogar als Marketingweg verschenken, wächst: unter www.livemetallica.com kann man legal hunderte von Konzertmitschnitten von Metallica herunterladen, Seeed hat die Single „Molotov“ eine Weile gratis ins Netz gestellt, Stars wie Lady Gaga leben geradezu im Internet und schaffen es alleine mit Singleverkäufen per Internet auf Platz 1 der Charts.
Haben wir gerade die einmalige Chance, Dinosaurier beim Aussterben zu beobachten, oder hören sie noch vor ihrem Untergang die Zeichen der Zeit?

UPDATE: Der Lindenstraßen-Produzent Hans W. Geißendörfer hat die medialen Veränderungen verstanden und will sie nutzen, die auf dem Markt unsichtbaren deutschen Kinofilme wieder sichtbar zu machen.
Und Dietrich Brüggemann beschreibt, wie er als Kreativer am Urheberrecht beizeiten verzweifelt, als Konsument schon in der neuen Welt angekommen ist:

Wenn ein Buch, ein Film oder ein Lied mich wirklich berührt, dann berührt es eine ganz andere Abteilung in meinem Kopf als die Finanzverwaltung. Und das ist auch das Geschäftsmodell der Indie-Labels, deren Musik ja das vergangene Jahrzehnt maßgeblich geprägt hat. Die machen Musik, die von Leuten wirklich geliebt wird. Das bewegt sich finanziell immer auf dünnem Eis, aber irgendwie funktioniert es dann doch. Ich empfinde die Musiklandschaft jedenfalls heute als deutlich reichhaltiger und interessanter als vor zehn oder zwanzig Jahren.

Und hier noch eine sehr ausführliche Erklärung von Wolfgang Messer, was alles schon der Tod der Musikindustrie gewesen sein sollte mit einem klaren Fazit:

Die Lösung wäre – lange vorher – das bekannte Motto “if you can’t beat them, join them” gewesen. Statt eine Technologie oder geübte Praxis mit politischer Lobbyarbeit, seltsamen Einschränkungen (SCMS- und DRM-Kopierschutz, Regionalcodes etc.) und wenig wirksamen Reglementierungen zu bekämpfen, hätte die Medienproduktions- und Verwertungsindustrie versuchen müssen, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. […]
Inzwischen – wo mal wieder eine heftige Diskussion über Urheber- und Nutzungsrechte im Digitalzeitalter tobt (die wievielte eigentlich in den letzten 30 Jahren?), ist das Kind nicht nur in den Brunnen gefallen, sondern schon längst eine Wachsleiche.

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