Es war heute Nacht, kurz nach drei Uhr. Durch das Schlafzimmerfenster hörte ich eine Katze singen. Singen bedeutet nicht, dass sie Spaß an Musik hätte, sondern, dass sie gerade einen Konflikt mit einer anderen Katze austrägt.

Das fand ich nicht sehr schön, über kurz oder lang stimmt die andere Katze  in den Gesang ein, und dann kommt es zu Kampfgeräuschen, die meinen Schlaf noch mehr beeinträchtigen würden.

Zum anderen ist ein Mitbewohner im Haus ein Norwegerkater, Nils mit Namen, der sich in der zweiten Hälfte seines zweiten Lebensjahrzehnts befindet. Sein genaues Alter ist nicht bekannt, da er vor rund 13 jahren als Streuner vor der Tür stand. Er war, soweit ich die Stimmen auseinanderhalten konnte, nicht der Sänger, aber wenn er der Kontrahend war?

Ich öffnete das Fenster und sah Nils stolz und selbstbewusst auf der Garage sitzen, an der Vorderkante, von der Straßenlaterne beleuchtet. Der mittlerweile zweistimmige Gesang kam von gegenüber.

Nils war also nicht nur unbeteiligt, sondern er beobachtete das Geschehen. Da die beiden Kontrahenden inzwischen Kampfgeräusche ausstießen, zog ich mich an, ging vor das Haus und verscheuchte sie, damit ich schlafen kann.

Nils saß nach wie vor auf der Garage und sah den von mir erschreckten und flüchtenden Katzen hinterher

Er kam mir vor, wie man es von Julius Cäsar und anderen römischen Kaisern las, wenn sie im Circus den Gladiatoren zusahen. Ein wenig gelangweilt, dennoch souverän.

Zum Glück hat er keine Daumen. Das macht ihn von uns abhängig, weil man Futterdosen ohne Daumen kaum öffnen kann. Außerdem ist er so nicht in der Lage, durch Daumenzeichen zu signalisieren, was mit dem Verlierer des Kampfes geschehen sollte.

Der nach oben gereckte Daumen ist nicht erst seit Facebook das Zeichen der Zustimmung. Doch trotz etlicher Referenzen von Asterix bis zu Filmen wie Gladiator war es im alten Rom anders.

Der hoch gereckte Daumen des Publikums sollte das Schwert symbolisieren, dem der Verlierer zum Opfer fallen soll. Gnade hingegen sollte ihm zuteil werden, wenn der Daumen in der Faust versteckt oder auf den Zeigefinger gelegt wurde – möglicherweise kommt daher der Begriff des „Daumen drückens“.

In wenigstens einigen arabischen Ländern ist der ausgestreckte Daumen bis heute eine obszöne Beleidigung, in der Türkei, so las ich, gilt er anscheinend als Aufforderung zu (homosexuellem?) Sex. Der Kölner Stadtanzeiger behauptet sogar, dass der nach oben ausgestreckte Daumen selbst in Griechenland, Australien und Russland als obszöne Geste gälte, was erklären könnte, warum auf vk.com statt des Daumens ein Herz angeklickt wird.

Auf Facebook ist der Daumen hingegen weltweit positiv belegt, obwohl die Legende, auf der das Zeichen beruht, eben historisch falsch ist.

Wir, die westlichen Industriestaaten, exportieren Kultur in alle Welt. Coca-Cola, Jeans, Hamburger, Mercedes, VW und Audi, ausreichend German Angst, um hinterher Waffen zu verkaufen. Mozart und Beethoven sind in Asien und im arabischen Raum bekannter als dortige historische Künstler bei uns, und das obwohl dort schon Hochkulturen existierten, als wir noch analphabetisch im finsteren Frühmittelalter vegetierten.

Wir exportieren Cowboys und das Oktoberfest, den Eiffelturm und Gouda in alle Welt, aber wenn dann Leute aus aller Welt zu uns kommen wollen, haben wir plötzlich Angst vor Überfremdung.

Wir verstehen den historischen Kontext einer so gängigen Geste wie dem nach oben ausgestreckten Daumen so völlig falsch, versuchen aber, anderen zu erklären, warum deren heilige Schrift von Anfang an böse war, es bis heute noch ist und sie deshalb hier nicht erwünscht seien.

Wir konzentrieren uns auf das Negative im Fremden und verlieren den Blick für die Relationen. Im ersten Halbjahr 2016 gab es in Österreich 5 Vorfälle, in denen Flüchtlinge Sexualdelikte begangen haben sollen, tatsächlich bestimmten diese 5 Vorfälle aber 80% der Berichterstattung über die im selben Zeitraum vermutlich 400-500 Sexualdelikte.

Unsere Buchstaben stammen aus Rom, die Null aus Indien, die restlichen Ziffern aus der arabischen Sprache. Der Stifter der Mehrheitsreligion der westlichen Industriestaaten stammt aus dem Nahen Osten.

Wir orientieren uns an dem, was war, und nicht an dem, was einmal werden kann, und sehen dabei nicht, dass selbst Deutschland noch nie eine einheitliche Kultur hatte.

1228 war der größte Teil von Italien Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Dieses Reich existierte 844 Jahre, sechs Monate und vier Tage. Man sprach Deutsch in verschiedenen Dialekten, Slawische Sprachen, das Lateinisch der Kirche sowie Vorläufer des heutigen Französisch und Italienisch.

Deutschland ist eine Föderation mit vielen teilautonomen Bundesländern, weil wir kulturell durch die Vielfalt dieser 844 Jahre geprägt sind. Und weil wir in all den Jahrhunderten gelernt haben, trotzdem mit einander klar zu kommen und von einander zu profitieren.

Vielleicht ist es unsere historische Aufgabe, das auch in Europa zu realisieren: Eine Union Europäischer Staaten, in der man Konflikte löst statt sie auszutragen. Vielleicht gibt es auch „historische Aufgaben“ gar nicht und es ist uns freigestellt, Teil eines großen Ganzen zu werden oder als Splitterstaat langfristig bedeutungslos zu werden – aber wenigstens stolz auf etwas, was wir uns als einheitliche Kultur einbilden.

Vielleicht liegt meine Hoffnung, dass wir Teil eines großen Ganzen werden, daran, dass ich als Kind so oft umgezogen bin, dass ich noch nicht einmal einen eigenen Dialekt spreche, dafür aber viele verstehe.

Ich bin einfach zuversichtlich, dass es so kommt und immer mehr Staaten zusammen rücken und erkennen, dass niemand alleine klar kommt. Denn alles andere würde die Welt für uns kleiner, begrenzter, enger und ärmer machen.

Die welt ändert sich.

Also Daumen hoch für Europa, Daumen hoch für das Gute im Fremden. Auch, wenn der Daumen historisch mal eine ganz andere Bedeutung hatte, als wir sie ihm heute geben.

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