Wir stellen also fest: Religionen dienen dazu die Welt zu erklären, ethische und andere Regelwerke als Grundlage der Gesellschaft verbindlich zu machen, eine Identität zu stiften und zu definieren, was gut ist und was böse und das Böse zum Gegenspieler zu definieren.

Verschwörungstheorien erklären wenigstens einen Ausschnitt aus der Welt mit der Tendenz zur Erklärung von allem, geben auch Regelwerke („Du sollst nicht impfen“) vor und stiften ihren Mitgliedern eine Identität. Zudem definieren sie wer oder was das Böse ist und versprechen Schutz und Erlösung.

Ähnlich bei PEGIDA. Die Patriotischen Europäer wollten sich gegen eine Islamisierung des Abendlandes wehren. Die Islamisierung ist ein Hirngespinst, eine Verschwörungstheorie. Nicht mehr. Es gab und gibt keine Bestrebungen irgendeines islamischen Religionsführers oder Regierungschefs, Europa zu islamisieren.

Entwicklung der Moslems in Deutschland ab 1945, Quelle: Statistisches Bundesamt

Zumindest zeigt die Entwicklung seit 1945, dass eine Islamisierung, wenn sie denn mal geplant war, seit ca. 1995 ziemlich ins Stocken geraten ist.

Aber es sind religiöse Züge an PEGIDA: Es gibt eine Gemeinschaft, die durch das gemeinsame Ziel Identität stiftet, es gibt aus den Zielen der Gemeinschaft abgeleitete Regeln und mit den unsäglichen „Montagsdemos“ auch einen gemeinschaftlichen Effekt.

Und es gibt einen Gegner, das Böse, das die Islamisierung will, und auf das wir unsere freien Ängste focussieren können.

Anderes Beispiel: Die Identitäre Bewegung: Es gibt ein „Wir“, das seinen Mitgliedern eine Identität stiftet – die herbeiphantasierte Europäische Kultur – und ein „Die“, das den Feind darstellt, das Böse um des Bösen willen. Zufällig wieder der Islam und die Islamisierung, die man mit den Mikroskopen der Identitären offenbar erkennt.

Und lustigerweise finden wir das in allen politischen Bewegungen: Die Sozialisten haben einen großen Feind – den Kapitalismus – und einen ihre Mitglieder durch den gemeinsamen Kampf für eine gerechtere Welt.

Die Konservativen wollen eher alles so lassen, wie es ist, insbesondere die Verteilung von Geld und Macht, denn so funktioniert ja alles. Der Feind sind beispielsweise diese Sozialisten, die alles umverteilen wollen.

Lediglich sind die Vorwürfe, die dem Feind gemacht werden, um so absurder, je weiter man sich von realen politischen Bewegungen hin zu Verschwörungstheorien bewegt.

Während es unserer allgemeinen Beobachtung entspricht, dass „Kapitalisten“ Menschen ausbeuten, um für noch weniger Geld noch mehr Zeugs zu produzieren, für das sie am Ende noch mehr Geld bekommen (das ist zudem der Sinn hinter dem BWL-Thema der Kostenrechnung), ist eine von AfD, *GIDA und den Identitären immer wieder zitierte Theorie von der „Umvolkung“ Europas gleichermaßen ausgedacht und widerlegt wie unausrottbar.

Fassen wir zusammen:

Religion gibt ihren Anhängern Identität und Rückhalt und eine Rückversicherung, dass ihr Handeln (sofern es die gesetzten Regeln einhält) zum Guten führt. Gleichzeitig fokussiert sie die freien Angstkapazitäten auf ein prototypisches Böses.

Verschwörungstheorien und politische Bewegungen agieren ähnlich. Auch sie geben einen Rückhalt und Identität, erklären, was gut ist und was böse.

Der Unterschied zwischen der politischen Bewegung und der Verschwörungstheorie ist jedoch die Definition, warum das jeweilige Böse denn nun böse ist. Politische Bewegungen können das sehr knapp erläutern:

  • Für Feministinnen ist das Patriarchat das Böse, weil es die Macht diskriminierend verteilt
  • Für SozialistInnen ist der Kapitalismus das Böse, weil er Menschen zum Produktionsfaktor degradiert und dazu führt, dass ihre Arbeit einen immer geringeren Wert hat
  • Für KapitalistInnen ist der Sozialismus böse, weil er die Gewinne des Kapitalismus mindert und den Arbeitern mehr Macht auch in den Betrieben geben will
  • Für TierrechtlerInnen ist (u.a.) die Fleischproduktion beginnend mit der Tierzucht das Böse, weil es aus der Schlechtbehandlung und Tötung fühlender Lebewesen Profit macht.

Je weiter wir nach rechts schauen, um so irrsinniger sind der Feind und das, worauf die Angst fokussiert werden soll.

Dennoch ist es nicht selten, als WählerIn oder gar Mitglied von einer politischen Partei in eine andere zu wechseln. Dass Geschwister wie Hans-Jochen und Bernhard Vogel in verschiedenen Parteien erfolgreich waren, ist auch nicht so unüblich, wie man glaubt.

Bei Religionen ist es mittlerweile überwiegend den Konsens, dass Glauben und Wissenschaft zwei Welten sind und man durchaus auch als GynäkologIn in einem Gottesdienst sitzen kann, wo die unbefleckte Empfängnis thematisiert wird, ohne gleich schreiend raus zu laufen.

Vielleicht ist es daher relativ schwierig, einen religiösen Menschen davon abzubringen, an einen Gott zu glauben.

Bei Verschwörungstheorien ist das Weltbild jedoch hermetisch, also geschlossen. Wer versucht, die Verschwörung zu widerlegen, ist entweder (noch) nicht erwacht – oder gehört zu den Verschwörern. Ist zumindest ein Mitläufer, der noch nicht erkannt hat, was los ist.

Welche Schlüsse ziehen wir daraus?

Verschwörungstheoretiker sind gefangen in einem Teufelskreis aus sich gegenseitig bestätigenden und verstärkenden, gleichermaßen aber unsinnigen bis widerlegten „Wahrheiten“. Es ist nur schwer möglich, sie dort wieder heraus zu holen.

Was wir aber machen können, ist, andere Menschen vor Verschwörungstheorien zu schützen. Das geht aber nur sachlich. Sobald ich die Verschwörung ins Lächerliche zu ziehen versuche, mache ich mich durch die unsachliche Argumentation angreifbar.

Bleibe ich hingegen sachlich und habe beispielsweise Zahlen zur Hand, die passend zum Anstieg der Kondensstreifen („Chemtrails“) am Himmel einen Anstieg der Flugpassagiere ausweisen, kann ich mit belegbaren Daten erklären, wofür Verschwörungstheoretiker Annahmen mit mehreren Unbekannten brauchen, habe ich argumentativ Oberhand und kann oft verhindern, dass Ängste sich auf das prototypische Böse der Chemtrailtheorie fokussieren.

Kann ich deutlich machen, dass die Wakefield-Studie nur eine zufällige Korrelation zweier Zahlen entdeckt hat, daraus aber keine Kausalität abgeleitet werden kann und die Studie inzwischen widerlegt und zurückgezogen wurde, kann ich einen der Keime der „Impflügentheorie“ schon eben im Keim ersticken.

Wir können durch sachliche Argumentation also kaum einen Verschwörungsgläubigen von seiner Quasi-Religion loseisen, aber wir können Menschen, die ihm zuhören, klar machen, dass das alles Unfug ist, was er da erzählt.

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