Es gibt seit rund einem Jahrzehnt ein Phänomen namens stochastischer Terrorismus. Stochastik ist die Mathematik des Zufalls und befasst sich daher unter anderem mit der Wahrscheinlichkeistsheorie.

Was bedeutet das im Zusammenhang mit Terrorismus?

Soziale Medien sind einer unserer hauptsächlichen Kommunikationswege. Ich benutze den Begriff in diesem Text gleichwohl für Facebook, TikTok und andere offene soziale Medien als auch für mehr oder weniger öffentliche Gruppen in Messengern wie WhatsApp, Telegram & Co. Gemeinsam ist ihnen, dass man mit wenig Aufwand und unter meist dem Schutz eines Pseudonyms dort kommunizieren kann, wobei der Großteil der Teilnehmenden eher konsumiert statt selber Inhalte zu generieren.

Stochastischer Terrorismus besteht nun darin, in entsprechenden Medien Stimmungsbilder zu erzeugen und zu verbreiten, die dafür zugängliche Personen zu Gewalttaten verleitet. Dieses Verleiten kann dabei vorsätzlich, mit bedingtem Vorsatz oder rein zufällig geschehen.

Es geschieht durch das Aufbauen von Angstszenarien, denn unsere Angstfähigkeit ist unglaublich stark im Vergleich zu den Dingen, vor denen wir im 21. Jahrundert durch sie noch beschützt werden müssen.

Ein Beispiel für die vermutlich zufällige Aufstachelung einer Person ist ein Vorfall, der sich am 18. September 2021 zugetragen hat:

In Idar-Oberstein wurde ein Tankstellen-Mitarbeiter erschossen, weil er darauf bestanden hatte, dass der Kunde die vorgeschriebene Schutzmaske trug.

Der Kunde wurde wegen Mordes angeklagt und verurteilt. In der Verhandlung begründete er die Tat folgendermaßen:

Der Angeklagte hatte gestanden, sich aus Wut darüber, dass der junge Kassierer ihm ohne Corona-Maske kein Bier verkaufen wollte, zu Hause eine Waffe geholt und bei einem erneuten Besuch in der Tankstelle abgedrückt zu haben.

Für die allermeisten Menschen wird es schwer verständlich sein, warum der Täter von dem Verlangen, für den kurzen Zeitraum eine Maske aufzusetzen, so aufgebracht war. Sicher spielte auch sein Alkoholpegel eine Rolle, aber Alkohol enthemmt in der Regel nur. Die grundlegende Stimmung muss schon da gewesen sein.

Während der Pandemie habe ich einige örtliche Telegram-Gruppen der „Covid-Leugner“, Impf- und Maßnahmengegner, kurz „Querdenker“ verfolgt. Es gab dort 2020 bis 2022 regelmäßig Holocaustvergleiche, es wurden Gerichtsprozesse analog zu den Nürnberger Prozessen gegen Verantwortliche angekündigt, geradezu zu einem existenziellen Freiheitskampf gegen die Corona-Maßnahmen aufgerufen: Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!

Solche Gruppen, die ein geschlossenes Weltbild mit einem „Wir gegen Die“ konstruieren gibt es bis heute in nach wie vor mehr oder weniger radikalen Ausdrucksweisen. Wenn nicht nur metaphorisch von einem Kampf, gar einem Bürgerkrieg gesprochen wird, was ich durchaus gesehen habe, ist das zwar von der Meinungsfreiheit gedeckt, kann aber Menschen anstacheln.

Auch der Täter von Idar-Oerstein war augenscheinlich Konsument entsprechender Nachrichten und Einordnungen der Maßnahmen, wobei es egal ist, ob er diese in öffentlichen Facebook-Gruppen, auf Twitter/X oder in einer Telegram-Gruppe konsumiert hat. Eine derartige Ablehnung des Tragens einer lächerlich beeinflussenden Maske ist ohne Verständnis der Maske als Unterrückungswerkzeug jedenfalls kaum anzunehmen.

Wir können natürlich nicht ausschließen, dass er nicht auch ohne Beeinflussung gewalttätig geworden wäre.

Wir können aber davon ausgehen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass er wegen der Maskenpflicht und anderer Maßnahmen Gewalt ausüben wird, durch die entsprechenden Einordnungen der Maßnahmen als Diktatur, Unterdrückung etc. in einschlägigen Medien höher geworden ist.

Die entsprechenden Kanäle, die ich beobachtet hab, neigten regelmäßig zu einem gegenseitigen Aufschaukeln. Die junge Jana aus Kassel beispielsweise, die sich selbst auf einer Kundgebung der Querdenker mit Sophie Scholl verglichen hat, ist dabei das Ergebnis des Aufschaukelns, des Suhlens in einer Opferrolle, des Vergleichs der Coronamaßnahmen mit dem Nationalsozialismus etc.

Derartige Manipulationen gab und gibt es auch im islamistischen Kontext.

Geflüchteten machen wir die Integration, gelinde gesagt, nicht wirklich einfach. Wir pferchen sie in Turnhallen und ehemaligen Kasernen ein, tieferen Kontakt zu „Eingeborenen“ bekommen sie nur bei ihrem Kontakt mit Ämtern. Obwohl sowohl die Fluchtgründe (Krieg, Verfolgung, Hunger) als auch die Flucht selber belastende und zu psychischen Problemen führende Erlebnisse sind, bekommen sie medizinische Hilfe für nicht akute Probleme erst nach 36 Monaten.

Wer also Angststörungen, Verfolgungswahn oder ähnliches durch diese Erlebnisse hat, wird bei akuten Schüben behandelt. Die Grunderkrankung hat 36 Monate Zeit, sich zu etablieren und zu manifestieren. 36 Monate in einer Situation, in der man keine Arbeit hat, in der sich zu jeder Zeit eine Umquartierung oder Abschieben ergeben kann.

Ohne aktive Hilfe bei der Integration, ohne Abschaffung der aktuellen Form der Zwangsunterkünfte, ohne ursächliche Behandlung psychischer Probleme verschlimmern wir durch unseren Umgang mit diesen Menschen zwangsläufig bei Individuen ohne Halt, Personen mit Ängsten und manipulierbaren Menschen die Anfälligkeit für Erzählungen, die beispielsweise vom Dschihad oder der Verfolgung von Moslems durch Ungläubige handeln.

Wenn auch hier nur ein winziger Bruchteil der Menschen tatsächlich zu Gewalt greift hat der, der die Manipulation steuert und orchestriert, gewonnen: Es geschehen Verbrechen, die zur Spaltung der Gesellschaft führen, die – wie aktuell – Wahlen beeinflussen, da sie zwangsläufig in den Wahlkampf spielen.

Dabei kann es offen bleiben, ob die Manipulation einfach wie bei Corona in sich gegenseitig aufstachelnden Gruppen oder gezielt durch den Islamischen Staat oder gar andere Staaten wie Russland geschieht. Es handelt sich dabei um stochastischen Terrorismus, der ohne die entsprechenden Millieus nicht (in dem Ausmaß) stattfände. Auch der von Donald Trump angestachelte Sturm auf das Capitol ist ein solcher Fall.

Das Phänomen wird aktuell wissenschftlich untersucht.

Bis zur hinreichenden Erforschung bleibt uns nur eine Umgangsform damit:

Wenn irgendwelche Personen spezifischer Zielgruppen wie beispielsweise Geflüchtete völlig unvorhersehbare, sinnlos scheinende Gewalttaten begehen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es sich um manipulierbare Menschen gehandelt hat, die eben manipuliert wurden. Das mindert ihre Schuld nicht und auch nicht das Leid der Opfer, wir müssen aber die Mitverantwortung der Gesellschaft sehen, auch Geflüchteten, die zu uns kommen, Halt und Stabilität zu geben.

Insbesondere behördlich bekannte psychische Probleme wie bei den Tätern von Aschaffenburg und Magdeburg können nicht mit einem Blick auf eine anstehende Abschiebung wegignoriert werden. Artikel 1 der Verfassung sagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dazu gehört auch eine adäquate Versorgung von Kranken, auch psychisch kranken Menschen.

Kategorien: Allgemein

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