Ich bin ja seit 2020 Mitglied des Stadtrats der Stadt Tönisvorst. Und Vorsitzender des Ausschusses für Mobilität, Digitalisierung und Wirtschaftsförderung. Und Mitglied und stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Sicherheit, Ordnung und Verkehr.

Und da schlägt die Realität manchmal nicht nur zu, sondern auch Kapriolen und macht Schildbürgerstreiche.

In unserem Fall ist es primär die Straßenverkehrsordnung. Es geht konkret um eine Tempo-30-Zone. Die hat auf der einen Seite einen sehr breiten Gehweg, auf dem früher mal ein in beide Richtungen befahrbarer Radweg existierte. Laut damaliger Straßenverkehrsordnung durfte es in einer Tempo-30-Zone aber gar keine Radwege geben.

Als die Tempo-30-Zone eingerichtet wurde hat man das jedoch ignoriert. Nach einiger Zeit wurde jemand dort mit sehr viel mehr als 30 km/h geblitzt und hat sich mal erkundigt: Verkehrszeichen wie das Vz 274.1 „Tempo 30 Zone Anfang“ sind Verwaltungsakte. Die können auch fehlerhaft sein und man kann den Rechtsweg beschreiten.

Da die Straße die Voraussetzungen zum Einrichten einer Tempo-30-Zone nicht erfüllte (wegen des Radwegs) war der Verwaltungsakt materiell fehlerhaft und der Geblitzte legte Widerspruch gegen das Bußgeld ein, da an dieser Stelle gar keine Tempo-30-Zone sein dürfte.

Als das ganze dann tatsächlich vor Gericht ging hat die Stadt kurzerhand die blauen Schilder mit Fußgänger und Radfahrer drauf abgehängt. Zack, rechtlich gesehen war es kein Radweg mehr sondern ein zur Hälfte rot gepflasterter Gehweg.

Problem gelöst.

Allerdings waren die meisten Menschen auf Fahrrädern irritiert, denn sie bogen von der Querstraße mit legalem rotem Radweg nach rechts ab und verließen das rote Pflaster des Radwegs gar nicht, warum sollte das jetzt, nach dem Abbiegen, kein Radweg mehr sein?!? Sind wir hier in Schilda?

Es gab für die Stadt zwei Möglichkeiten: Man pflastert alles neu und einheitlich grau (wäre teuer gewesen) oder sucht eine Möglichkeit, das Radfahren auf dem Gehweg zu erlauben, ohne direkt einen illegalen Radweg draus zu machen. Wenn das Pflaster irgendwann mal erneuert werden muss wird es einfarbig und alles ist gut.

Man entschied sich für letzteres.

Um das Radfahren dort zu erlauben stellte die Stadt das Verkehrszeichen 239, „Gehweg“, auf – rund, blau, mit stilisierter Mutter mit Kind – und darunter das Zusatzschild 1022-10, „Radverkehr frei“ eckig, weiß, mit einem Fahrradsymbol und dem Wort „frei“. Das galt jetzt als Lösung. Man darf ja jetzt mit dem Rad fahren. Also fuhren alle weiter auf dem roten Pflaster und wenn jemand im Weg stand wurde geklingelt, damit man durch kommt.

Aber.

Das Schild „Radverkehr frei“ erlaubt das Radfahren im Schritttempo, was nach einschlägigen Urteilen wahlweise 5 km/h, 4-6 km/h oder 7-9 km/h ist. Jedenfalls unter 10 km/h. Zudem muss man Rücksicht auf Fußgänger:innen nehmen und darf diese nicht behindern oder bedrängen. Gedacht ist das Schild nämlich eigentlich für Fußgängerzonen oder Stichwege, über die man zu Fuß zwischen Straßen abkürzen kann, die aber zu schmal für einen Radweg sind. Daher auch das Schritttempo – die Fußgänger:innen sollen nicht gefährdet werden.

Tatsächlich hat sich niemand, der weniger als 2,6 Promille Alkohol im Blut hatte, an das Schritttempo gehalten. Dazu kommt, dass die Stadt die Ausschilderung nur so mittelgut und wie einen Schildbürgerstreich gemacht hat. Schilder wie die Kombination aus 239 „Gehweg“ und 1022-10 „Radverkehr frei“ gelten in Fahrtrichtung ab der Stelle, wo das Schild steht. Aufgestellt wurden diese Schilder aber nur an den drei echten Querstraßen, die in die Tempo-30-Zone einmünden. An einer vierten Einmündung, die nur über einen abgesenkten Bordstein führt und nicht als Straße gilt, fehlten die Schilder zu Recht.

Hier ist das Ergebnis dieser Ausschilderung. An den mit den Kreuzen markierten Stellen waren jeweils in beide Fahrtrichtungen die Schilderkombinationen angebracht.

Es gilt je nach Fahrtrichtung die jeweils rechte gestrichelte Linie. Biegt man links am Kreisverkehr in die Straße ein, endet erstmal der Radweg mangels Verkehrszeichen und eigentlich müsste man absteigen (rot gestrichelte Linie). Das gleiche sinngemäß umgekehrt in Gegenrichtung.

Ab der jeweils ersten Querstraße durfte man dann im Schritttempo fahren (grün gestrichelte Linie). Da das Schild auch an der jeweils letzten Querstraße angebracht war, durfte man auch im letzten Abschnitt der Straße im Schritttempo fahren, in dem der Gegenverkehr sein Rad eigentlich schieben musste.

Natürlich – wie vorhersehbar – hat sich niemand daran gehalten, weil nach wie vor 90% aller Radfahrenden das rote Pflaster für einen Radweg gehalten haben. Was immer wieder zu kleineren Konflikten zwischen Anwohner:innen und Leuten auf dem Rad, die z.B. zur Arbeit fuhren, führte. Auch ich hatte mehr als einmal während des Berufsverkehrs einen wild „Runter vom Radweg“ brüllenden Pedelec-Fahrer fast in der Hundeleine hängen.

Bei einem Unfall wäre der aber alleine wegen des zu hohen Tempos Unfallverursacher gewesen – bzw. im jeweils ersten Abschnitt der Straße, weil er dort gar nicht hätte fahren dürfen. Wenn man vom Kreisverkehr kam, fuhr man zudem an einer gut frequentierten Bushaltestelle vorbei – auch auf dem Abschnitt, wo man eigentlich hätte schieben müssen. Auch das war eine Einladung zu Unfällen.

Dass es keine (nennenswerten) Unfälle gab ist ein Glück der Radfahrenden und der Stadt. Insbesondere haben Radfahrende bei dieser Ausschilderung an den Einmündungen – anders als auf der Straße oder einem Radweg – keine Vorfahrt, wenn sie von Rechts kommen.

Letztens waren dort groß angelegte Bauarbeiten und nach mehr als einem Vierteljahrhundert wurden das rote Pflaster und später auch die Verkehrsschilder entsorgt. Radfahrende sollen in Tempo-30-Zonen eh auf der Fahrbahn fahren, was auch gute Gründe hat.

Und, Überraschung, auch ohne Verkehrsschilder und das rote Pflaster fahren dort nach wie vor 80% der Leute mit dem Rad, wie vorher, und glauben, sie führen auf einem Radweg.

„Aber da kann man doch ein Bisschen Rücksicht auf einander nehmen und das lockerer sehen“.

Ja, kann man. In einer idealen Welt würde ich das auch.

Es locker zu sehen ändert erstmal nichts daran, dass jemand, der mit dem Fahrrad in eine spielendes Kind hinein fährt, in diesem Kontext der Unfallverursacher ist. Und wer meint, das sei ein Radweg und man habe man ja Vorfahrt vor Autos, die von Links aus der Querstraße kommen oder dort hinein fahren, hat automatisch bei einem Unfall auch juristisch und in Sachen Haftung schlechte Karten, denn er hat eben keine Vorfahrt. Eine Erkenntnis, für die man in diesem Fall auch einen Krankenhausauftenthalt riskiert, wenn man wegen des Irrtums über eine Motorhaube geflogen ist.

Zudem nehmen andere Verkehrsteilnehmer:innen, insbesondere die im Auto, auch das eine oder andere sehr locker. Es gibt beispielsweise aus gutem Grund inzwischen in der StVO die Vorschrift, dass beim Überholen eines Fahrrades seitlich 1,5m Abstand einzuhalten sind. Vom Auto aus kann man den Kram, dem ein:e Radfahrer:in direkt rechts von einem ausweichen muss (Ast, Stein, Schlagloch) nicht sehen und ist daher oft erschrocken, wenn das Fahrrad während des Überholens kurz einen Schlenker macht.

Der Schrecken ist da noch das kleinere Übel, denn es gab auch schon reichlich Unfälle deshalb. Daher muss ausreichender Abstand eingehalten werden.

Das wird aber gerne ignoriert, auch in Tempo-30-Zonen, wo das Fahrrad eh kaum langsamer ist als man selber. Und die Reaktion, wenn man z.B. im Sommer mal ins Cabrio hinein anmerkt, dass der Abstand gerade aber keine 1,5 Meter waren, sind durchweg uneinsichtig bis unfreundlich. Genau genommen war nach weniger als 50cm Abstand der Spruch „Ich hab auch keinen Zollstock dabei zum Nachmessen“ noch einer der Freundlicheren. Von zugeparkten Geh- und Radwegen (gegen die ich seit den 1980ern kämpfe) mal abgesehen.

Long story short: Ich erwarte von Leuten, die im Auto fahren, dass sie sich an die Vorschriften halten, die zu meinem Schutz gelten, und biete im Gegenzug dafür, dass ich mich auch an die für mich geltenden Regeln halte.

Inzwischen hatte sich auch die StVO weiterentwickelt. Radwege werden heute differenziert zwischen benutzungspflichtigen Radwegen (die, wie früher, mit den drei blauen Schildern erkennbar gemacht werden) und nicht benutzungspflichtigen Radwegen.

In Tempo-30-Zonen verboten sind nur die benutzungspflichtigen Wege. Warum weisen wir also auf der Straße nicht einfach einen nicht benutzungspflichtigen Radweg aus?

Leider wurde ca. 2001 bei der Reform der StVO komplett vergessen, zu definieren, woran man letztere erkennt. Schilda lässt grüßen. Tatsächlich gibt es deutschlandweit benutzungspflichtige Radwege in blau, rot und grün. Mal sind sie mit Farbe markiert, mal farbig gepflastert. In München sollen die eigentlich roten Radwege zukünftig an Gefahrenstellen grün statt rot sein.

Manchmal ist ist der Radweg auch nur durch eine weiße Linie auf dem Gehweg abgegrenzt. Das blaue Schild, das sie benutzungspflichtig macht, gibt hier Klarheit, dass es ein Radweg ist. Wenn die Schilder aber abgebaut werden, wird der Radweg im Zweifel zum Gehweg.

Es hat bis 2020 gedauert, bis ein mittelhässliches Piktogramm vereinbart wurde, mit dem man nicht benutzungspflichtige Radwege als solche bundesweit einheitlich kennzeichnet, indem man es auf den Boden malt. In Kraft getreten ist das, ich glaube, 2022 – da waren gerade die Bauarbeiten, mit denen die rote Pflasterung abgebaut wurde. Und heute ist dort fast auf der gesamten Strecke nur noch ein Unterschied zwischen altem und neuem grauen Pflaster, der zum Abgrenzen eines Radweges nicht ausreicht.

Aber warum sollte man überhaupt einen nicht benutzungspflichtigen Radweg einrichten? In der StVO, dort in §45, Abs. 1c steht ausdrücklich:

Die Straßenverkehrsbehörden ordnen ferner innerhalb geschlossener Ortschaften, insbesondere in Wohngebieten und Gebieten mit hoher Fußgänger- und Fahrradverkehrsdichte sowie hohem Querungsbedarf, Tempo 30-Zonen im Einvernehmen mit der Gemeinde an.

Eine Tempo-30-Zone dient doch schon dem Schutz der Radfahrenden! Daher steht auch in einigen Kommentaren zur StVO, dass die Einrichtung eines neuen Radweges oder einer Radspur etc. in einer Tempo-30-Zone von der StVO nicht gewollt ist und daher mutmaßlich illegal. Leider gibt es dazu aber noch keine Urteile aus Instanzen, die Rechts- und damit Planungssicherheit geben. Denn da der Radweg ja seit dem Gerichtsverfahren nicht mehr existiert, müsste eben ein neuer Radweg ausgewiesen werden.

Und entsprechende Statistiken belegen auch, dass es mehr Unfälle auf kombinierten Geh- und Radwegen gibt als in Tempo-30-Zonen. In unserem Fall riskiert man mit einem Radweg links auf dem Gehweg sogar Dooring-Unfälle, weil unmittelbar links neben dem Radweg Parkbuchten liegen. Erfahrungsgemäß wird auf der Beifahrerseite noch weniger auf sich nähernde Fahrräder geachtet als auf der Fahrerseite.

Von den vielen Garagenauffahrten der Einfamilienhäuser, die gegen einen Radweg sprechen, will ich gar nicht erst anfangen.

Dass, wie man jetzt als Kritik hört und liest, in der Tempo-30-Zone Autos auch mal 70 fahren – das ist (leider) überall so und stellt eher die StVO in Frage als die aktuelle Regelung bei uns. Merklich viele Autos fahren morgens und abends im Berufsverkehr, und das wird sich jetzt mutmaßlich verändern, wenn die Leute merken, dass ein legales Überholen von Fahrrädern dort wegen Engstellen und Gegenverkehr kaum möglich ist und der gefühlte Zeitvorteil beim Abkürzen der Ortsdurchfahrt daher nicht mehr existiert.

Den Rest des Tages fahren dort ausgesprochen wenige Autos.

Wir müssen also einfach abwarten.

Kategorien: Allgemein

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