Im Science-Fiction-Film Gattaca geht es um ein sehr heikles Thema: Genetischer Determinismus. Ein junger Mann darf nicht Raumfahrer werden, weil er eine genetische Besonderheit hat, die das Risiko von Herzerkrankungen bei ihm steigert – auch, wenn derzeit noch keine gesundheitlichen Probleme bestehen.
Die Wissenschaftsethik streitet sich heute, ob Methoden wie Präimplantationsdiagnostik ethisch vertretbar sind. Ich kenne einige Menschen, die liebend gern ihr gesamtes Erbgut nach allen bekannten Krankheiten absuchen lassen würden, teils aus schierer Neugier, teils aus gezieltem Interesse. Andere – wie ich – wollen das gar nicht wissen: Als ich letztes Jahr erfuhr, dass ich höchstwahrscheinlich das Mukoviscidose-Gen in meinem Erbgut trage, war das schon ein merkwürdiges Gefühl. Wäre ich nicht aus genau diesem Grund kinderlos, dann hätten meine Kinder dieses Gen auch und es hinge vermutlich an weniger als einer Handvoll Nukleinsäuren, ob sie leidvoll erkranken und ihre Lebenserwartung nur noch 35 Jahre beträgt.
In Gattaca ist dieses Szenario noch gesteigert: der Determinismus der Wissenschaftler unterstellt, dass man anhand der genetischen Vorgaben genaue Aussagen über Gesundheitsrisiken etc. treffen kann. In Sachen Gentechnik sind wir heute noch nicht in der Situation, dies behaupten zu können, dazu sind trotz der immensen Fortschritte der Gentechnik glücklicherweise noch zu wenige Zusammenhänge erkannt.
Aber in anderen Bereichen maßen wir uns an, Vorhersagen treffen zu können, die so relevant sind, dass sie Einfluß auf das Leben der einzelnen Menschen nehmen.
Vor einigen Wochen habe ich über selbstauskunft.net etliche Firmen um die übliche Datenschutzauskuft gebeten, darunter auch die Schufa.
Ein Eintrag dort machte mich ziemlich neugierig.
Es waren drei Aspekte:

  • Warum hat ein Versandhaus, bei dem ich seit Jahren Kunde bin, eine Bonitätsanfrage wegen „Kauf auf Rechnung oder Ratenzahlung“ gestellt, wo sie auch bei der fraglichen Bestellung den Betrag in einer Summe per Bankeinzug erhielten?
  • Warum wird meine Bonität wegen „Kreditaktivität letztes Jahr“ abgewertet?
  • Warum wird meine Bonität wegen „allgemeiner Daten“ abgewertet?

Ich fragte bei der Schufa nach und recherchierte selber.
Auszug aus dem Schufa-Scoring - Klicken für die Gesamtansicht
Dass das Versandhaus zur Anfrage formell berechtigt war, weil sie tatasächlich das Geld erst nach Ablauf von drei Wochen abbuchen, ist ein Winkelzug, über den ich noch mit dem Versandhaus reden werde. Laut Schufa ist auch dieses „Vorstrecken“ oder „Stunden“ der Zahlung technisch gesehen sowas wie eine „Ratenzahlung“. Ich sehe dahinter einen Trick, auch Kunden ohne Kreditzahlungen bei der Schufa überprüfen lassen zu können.
Wie man nach Klick auf das Vorschaubild sehen kann, wird das Scoring – bei mir 96,5% – aus Daten in 6 Kategorien errechnet. Die Kategorien „Kreditnutzung“ und „Anschriftendaten“ sind in meinem Fall nicht verfügbar („n/v“). Die Bewertungen aus „Bisherige Zahlungsstörungen“ und „Länge Kredithistorie“ sind mit „++“ Bestbewertungen.
Woher kommen jedoch die Abwertungen in den Kategorien „Kreditaktivität letztes Jahr“ und „Allgemeine Daten“? Mein Scoring ist dort mit „-“ unterdurchschnittlich.
Die Schufa selber erläutert die Kategorien wie folgt:

Kreditaktivität letztes Jahr
Ob und in welchem Umfang Sie in den letzten 12 Monaten Kreditgeschäfte angefragt und tatsächlich abgeschlossen haben, kann in dieser Datenart berücksichtigt werden.

Lustigerweise hatte ich laut Schufa-Auskunft im letzten Jahr keinerlei Kreditaktivitäten, es sind für 2011 überhaupt keine Einträge vorhanden, als hätte ich eine Reise zum Mars unternommen. Führt es zu einer Abwertung auf „-„, dass man keinen Kredit aufgenommen hat?
Tatsächlich hatte ich anlässlich eines Autokaufs kurzfristige Kredite (meinen Dispo) genutzt, um die Kündigungsfristen einer Geldanlage zu überbrücken. Ich habe ein geregeltes Einkommen, daher hatte meine Hausbank keinen Grund, das der Schufa zu melden.
Und ebenfalls tatsächlich führt das Fehlen von Daten über die Kreditabwicklung nach den Erkenntnissen der Schufa dazu, dass man eher ein Risikokunde ist – eine Deterministik, die ihre eigene statistische Grundlage ausmerzt und daher aus der Feder von Monty Python stammen muss:
„Sie bekommen keinen Kredit von uns, weil Sie noch nie einen Kredit ordentlich abbezahlt haben.“
„Aber ich hatte noch nie einen Kredit!“
„Eben.“
Die Schufa kann aber noch absurder:

Allgemeine Daten
Unter „Allgemeine Daten“ fallen die restlichen bei der SCHUFA gespeicherten Informationen, wie z.B. Angaben zur Person selbst. Diese können insbesondere im Zusammenhang mit den anderen Datenarten relevant sein (z.B. das Verhältnis von Angaben über bisherige Zahlungsstörungen in Abhängigkeit vom Lebensalter).

Laut Schufa-Auskunft hatte ich bislang keine Zahlungsstörungen, es kann sich also nur noch um demoskopische Daten handeln, die gespeichert sind: Geburtsdatum, Geburtsort, sowas halt.
Und siehe: Andere Kunden ohne Kredithistorie mit „++“ hatten mit solchen Schufa-Auskünften, die von potenziellen Vertragspartnern eingeholt wurden, wenig Spaß. Der Twitterer @fadenaffe hat sehr erleuchtend in seinem Blog berichtet, dass er wegen seiner Adresse keinen Mobilfunk-Laufzeitvertrag bekommt.
Das ganze nennt man Geoscoring und ist ungefähr genauso blödsinnig und diskriminierend, wie die im Film Gattaca beschriebene Gen-Analyse.
Beim Scoring handelt es sich um Prognosen, und wie Mark Twain (oder Winston Churchill oder Kurt Tucholsky) mal gesagt hat: „Prognosen sind äußerst schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen.“
Keinen Kredit zu bekommen, weil man 1988 in einem Dorf in Mecklenburg geboren wurde, was statistisch gesehen die Ausfallwahrscheinlichkeit der Zahlungen erhöht, ist eine Diskriminierung und kann Leben ruinieren.
Schauen wir mal in die Firmenliste, an die selbstauskunft.net die Auskunftsschreiben schickt – es sind alleine fünf Mieterauskunfteien enthalten:

  • DeMDa Deutsche Mieter Datenbank KG
  • Deutsches Mietnomaden Melderegister
  • IGSK Group UG (Vermieterschutzgemeinschaft)
  • VSK Vermieterschutzkartei Deutschland-GmbH & Co. KG
  • Zentrale VermieterSchutz Datenbank GmbH

Noch sammeln diese lediglich konkrete Daten über Menschen, die z.B. als Mietnomaden erst nicht zahlen und dann die Wohnung ruiniert hinterlassen – aber Konkurrenz belebt das Geschäft und auf Basis der gemeldeten Fälle können statistische Eckwerte ermittelt werden, auf denen ein Scoring für potenzielle Mieter basiert. Die Mieterauskunftei, die auch bei noch unbekannten Mietbewerbern ein Scoring durchführen kann, hätte einen immensen wirtschaftlichen Vorteil.
„Sie bekommen die Wohnung nicht, weil bei alleinstehenden Frauen der Jahrgänge 1973 bis 1976 die Wahrscheinlichkeit oft wechselnder Herrenbesuche mit Beschädigungen im Treppenhaus überdurchschnittlich hoch ist.“
Viele Wirtschaftszweige schreien bei längerfristigen Verträgen nach Sicherheit, sie wollen Kunden, die sich als faule Eier entpuppen, gar nicht erst haben. Das war schon in den 1980ern so und der Wunsch ist nicht schwächer geworden – eher im Gegenteil.
Auch viele Arbeitgeber hätten sicher gerne ein Bewerberscoring: „Nein, Müller können wir nicht einstellen, er hat bei seinem familiären Hintergrund eine Wahrscheinlichkeit von 75%, dass er in einer Gewerkschaft aktiv ist.“
Sicher darf ein Bewerber nicht gefragt werden, ob er in einer Gewerkschaft ist. Sicher darf eine Bewerberin nicht gefragt werden, ob sie ein Kind haben möchte. Aber über allgemeine statistische Daten das individuelle Risiko auf „wird schnell schwanger“ oder „gründet einen Betriebsrat“ zu ermitteln – noch wäre das legal.
Glücklicherweise hat außerhalb der Finanzbranche kaum jemand diesen Faible für Zahlen und Risikoanalysen, genauso, wie das Wissen um das menschliche Erbgut noch keine Deterministik à la Gattaca ermöglicht.

Heute jedenfalls.

Update: Alvar Freude hat das gleiche „Scoring-Problem“ wie ich: Er kriegt keine Kreditkarte, weil er noch keine Kredite abgezahlt hat.

Kategorien: Allgemein