Im Moment wird ein Schnipsel des Wahlprogramms der Grünen aus dem Jahr 1987 herumgereicht. Voll der Lacher, glaubt man dem Mainstream. Ehrlich?
Besonders die Vorbehalte gegen ISDN und die Digitalisierung der Kommunikation an sich führen heutzutage zu Grinsen.
Aber: Ich war 1987 schon online und hatte, ohne damals Mitglied der Grünen gewesen zu sein, dieselben Bedenken. Und war nicht alleine damit.
Wie kam das?
Damals hatten wir ein rein analoges Telefonnetz. Verbindungen wurden über elektromechanische Wählelemente hergestellt, also Einheiten, die nach den Impulsen der Wählscheibe (oder simulierten Wählscheibenimpulsen bei Tastentelefonen) die Leitung zur Zielnummer auswählte. Bis 1997 waren zum Beispiel die Edelmetall-Motor-Drehwähler im Einsatz.
Jede gewählte Ziffer leitete den Anrufer ein Wählmodul weiter, bis mit der letzten Ziffer die Leitung zum Zielanschluss geschaltet war.
Das war eine Art Anonymisierungsdienst. Um den Anrufer herauszufinden, mussten Mitarbeiter der Post die jeweiligen Wählmodule vom Zielanschluss an zurückverfolgen. Das war nicht automatisch möglich, es musste ein Techniker durch die Vermittlung gehen und sich durchhangeln. Bei Gesprächen, die über mehrere Vermittlungen geführt wurden (Ferngespräche zum Beispiel), musste die Verfolgung dann noch per Telefon der nächsten Vermittlung weitergereicht werden.
Kurze Telefonate waren somit gar nicht zurückverfolgbar, wir kennen das aus Krimis, wo bis heute die Rückverfolgung von einer bestimmtne Gesprächsdauer abhängig gemacht wird.
Was heute dank Digitaltechnik weitestgehend Unsinn ist.
Menschen, die beruflich vertrauliche Telefonate führten, wie AnwältInnen, ÄrztInnen, Seelsorgeberufe etc. konnten sich der Anonymität und damit dem Schutz ihrer Anrufer sicher sein. Einen Einzelverbindungsnachweis gab es nicht, die vertelefonierten Einheiten wurden monatlich an Zählern in den Vermittlungsstellen abgelesen. Protokolle darüber hinaus existierten nicht.
Im Gegenzug waren Anrufe durch Erpresser, Drohanrufe oder illegale Mitnutzung des Anschlusses durch einen Nachbarn, der sich im Keller aufschaltet und die Verwandten in den USA anruft, nicht ohne erheblichen Aufwand nachzuvollziehen.
In diese Welt platzte ISDN mit Killerfeatures: Rufnummernübermittlung, Fangschaltung per Knopfdruck, Einzelgebührennachweis.
Damit hatten die schon genannten Berufsgruppen Zahnschmerzen. Denn: Wenn die Verbindungen alle gespeichert werden, um im Zweifel eine nach Ansicht des Anschlussinhabers unberechtige Forderung zu belegen, können die Daten auch missbraucht werden. JournalistInnen beispielsweise sind auf vertrauliche Kommunikation angewiesen, und wenn man dem mutmaßlichen Whistleblower anhand seiner Gebührendatensätze in der Telefonvermittlung das Telefonat mit der Redaktion nachweisen kann, ist das tödlich für jedes Vertrauensverhältnis.
Zudem waren die Daten missverständlich. Nicht jeder, der einen Drogendealer anruft, will Drogen kaufen. Vielleicht verkauft der Dealer nur sein Auto. Wenn Wochen später dann die Anrufe der Interessenten für den Wagen in den Focus der Ermittler kommen, weil diese alle Anrufe beim Dealer anhand der Gebührendaten nachvollziehen konnten, dann sind die Inhalte des Gesprächs nicht bekannt. Fragen kann man den Anrufer auch nicht, weil das die Ermittlungen gefährdet. Im Zweifel wird also der Anschluss überwacht.
Und das ist inakzeptael.
Ähnliche Argumente wurden übrigens auch gegen BTX angeführt, und das Satelliten-TV sowie das Kabelfernsehnetz sind heutzutage tatsächlich zum Armageddon für Kultur und Bildung geworden.
Die Bedenken wurden damals nicht wirklich ernst genommen. Geschwafel von Richtervorbehalt und der Möglichkeit, die Rufnummer beim Anruf zu unterdrücken, beruhigte die Kunden. In den 1990ern wurde das Telefonnetz sukzessive digitalisiert und auch ohne ISDN hatte man plötzlich die kritisierten Features.
Erst mit Verbreitung von Flatrates kam das Thema wieder auf und die Telekom-Anbieter wurden aus Datenschutzgründen verpflichtet, nicht mehr benötigte Verbindungsdaten zu löschen. Und bei Flatrates werden die „inklusiven“ Verbindungsdaten definitiv nicht zu Abrechnungszwecken benötigt.
Das macht Sicherheitspolitiker nervös, und sie fordern die Vorratsdatenspeicherung.
Mit den selben Argumenten, die von den Grünen damals gegen ISDN vorgebracht wurden, kämpft die Netzpolitik heute gegen die unsägliche Vorratsdatenspeicherung. Hätte man damals auf die GRÜNEN gehört, wäre VDS heute vielleicht gar kein Thema.
Ich war damals schon bei BTX und fand das klasse. Und ich bin bis heute ein Fan der Vorratsdatenspeicherung geblieben, seit fast 30 Jahren also.
Schön, daß sich seit 1987 nichts geändert hat. Volker König lehnt das seit 30 Jahren ab, ich bin seit 30 Jahren ein Fan. Wir müssen nichts dazulernen, es reicht, die alten Meinungen zu übernehmen.
BTX hab ich damals auch genutzt. Ich sehe vieles als eigenverantwortliche Entscheidung an: Wenn ich BTX nutze und Onlinebanking darüber mache, weiß ich, welche Daten ich dem System anvertraue. Genauso heute mit dem Internet.
Die Argumentation pro VDS ist aber heute genaus unehrlich wie damals die pro ISDN.
Richtervorbehalt? Haben wir bei den „RedTube-Abmahnungen“ gesehen. Zehntausende IP-Adressen den Kunden zugeordnet ohne Rechtsgrundlage. Die Gerichte sind personell so schlecht ausgestattet, dass sowas regelmäßig durchgewunken wird, wenn man die Textkonserven in früheren Fällen geprüft und für richtig befunden hat.
Und als Argument für die VDS wird heute die eben die Ermittlung der IP-Adressen angeführt, die (genau genommen) keine Verbindungsdaten sind sondern sowas wie eine Rufnummer. Und sie werden tatsächlich benötigt, um Straftäter zu ermitteln.
Was aber mit der VDS duchgesetzt und eigentlich gewünscht wird ist die flächendeckene Speicherung aller Kommunikationsvorgänge, um zum Beispiel Monate später alle im Umfeld eines Tatortes eingeloggten Handies ermitteln zu können.
Danke, Nein.
Ganz aktueller Bericht: EU-Studie zur Gewalt gegen Frauen. Jede dritte Frau in Europa ist ein Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt. Stalking und Mobbing, anonym über das Internet, das ist die moderne Form der Gewalt. Frauen haben kaum eine Chance, sich zu wehren. Quelle: Tagesschau von gestern, 20 Uhr.
Menschen, die von den 1980er Jahren schwafeln, sollten mal in der Gegenwart ankommen. Anonymität im Internet ist im Jahr 2014 vor diesem Hintergrund völlig inakzeptabel.
Stalking und Mobbing über das Internet können bekämpft werden, wenn die IP-Adressen den Tätern zugeordnet werden. Das ist richtig. Stelle ich auch nicht in Frage. Ich sähe auch kein Problem darin, diese Daten per Richtervorbehalt 6 Monate lang auskunftsfähig zu machen.
Dieses Argument wird aber vorgeschoben, um alle Kommunikationsmetadaten zu speichern. Also (nochmal) auch die Frage, in welchen Funkzellen Dein Handy vor 6 Monaten eingeloggt war. Oder: Welche Handies vor 6 Monaten in einer bestimmten Funkzelle eingeloggt waren. Wenn morgens um 8 im Wald bei Willich-Schiefbahn ein Mord begangen wird, wären auf diese Weise alle Berufspendler im Stau auf der A52 Ermittlungsziele.
Macht kein Ermittler? Wohl: http://www.heise.de/tp/artikel/28/28411/1.html
Die Sicherheitspolitiker packen sowohl die IP-Adressermittlung, die noch kein konkretes Kommunikationsdatum enthält, als auch die echten Verbindungsdaten in einen Topf und nennen sie „Vorratsdaten“.
Solange sie versuchen, im Schlepptau einer notwendigen und nachvollziehbaren Forderung empfindliche Grundrechtseingriffe zu realisieren und zu begründen, sind nicht die Gegner der VDS diejenigen, die Ermittlungen im Internet erschweren, sondern die Politiker.
Und was ist mit Menschen, die per Smartphone stalken und mobben? Wie will man die schnappen, wenn man nicht speichert, in welche Funkzelle mein Handy eingeloggt war (und darüber hinaus auch noch die Ports in dieser Funkzelle, das ist ein technisches Problem, das dringend angegangen werden muß).
Mich kotzen Menschen an, die VDS wg angeblicher „Grundrechtseingriffe“ ablehnen, aber dann bedauern, daß man leider, leider, den belästigten Frauen nicht helfen kann.
Das ist in der Tat ein Problem. Bloß: Die IP-Adresse, die bei den Mobilfunkprovidern genutzt wird, ist die seines Proxys. Ein Proxy pro Provider. Es ist dabei vollkommen irrelevant, wer wann in welcher Funkzelle angemeldet war. Das ist also Humbug.
Der Provider müsste jede (!) Netzwerksession über den Proxy protokollieren, um einen spezifischen Zugriff auf eine Website einem Nutzer zuordnen zu können.
Beispiel: Facebook speichert vermutlich zu jedem Zugriff die IP-Adresse. Also die des Proxys. Die Session-ID wahrscheinlich nicht. Über die unterscheidet der TCP/IP-Stack die verschiedenen Sessions, die von derselben IP-Adresse aus aufgebaut werden.
Um 17:45:04 wurde von einem O2-Handy aus etwas gepostet.
Erste Frage: Wieviele Mobilfunkteilnehmer von O2 werden um 17:45:04 eine Session mit einem Facebook-Server? Einer? Zehn? Hundert?
Zweite Frage: Wie genau stimmt die Uhrzeit in Facebooks Protokollen mit denen von O2 überein? Es geht hier um kurzfristige, flüchtige HTTP-Sessions von maximal wenigen Sekunden Dauer.
Das ist also kein Problem von „VDS oder kein VDS“ – es ist ein Problem der technischen Machbarkeit.
Was hat denn die Funkzelle mit der Indentifikation des Smartphonebenutzers zu tun? Was sollen denn die Ermittler in diesem Fall mit der Information über die vergangenen Aufenthaltsorte anfangen?
Ebend. Der Ort ist irrelevant. Die Zuordnung der IP-Adresse zum Nutzer ist relevant, und die ist dank Proxy aus technischen Gründen eh verschleiert.
Genau so ist es. Man muß die IP-Adresse dem Nutzer zuordnen können. Man muß also eine Proxy-Offenlegung fordern. Das wäre Aufgabe einer Politik, die ihre Aufgabe, verfolgte Frauen zu schützen, ernst nimmt.
Ich verweise zur „Proxy-Offelnegung“ auf meinen Kommentar von 12:55.
Ääähm, nein. Das hätte vielleicht den Zwischenschritt der Digitalisierung des Telefonnetzes verhindert, möglicherweise auch die Verbreitung des Internets in Deutschland verlangsamt aber sicher nicht verhindert.
Ohne ISDN-Netz wäre dann wahrscheinlich die jetzt gerade stattfindende flächendeckende Umstellung auf VoIP für die Sprachtelefonie früher passiert.
Das war ja auch nur eine bewusste Trollerei 😉
Es bleibt, dass die damaligen Argumente annähernd deckungsgleich mit den heutigen gegen VDS sind. Nur halt aus einer analogen Welt heraus gesehen.
Dank Flatrates und Datenschutz haben wir die Datensammlungen der Provider (um die es 1987 ging, aber die Post war ja damals auch Teil des Staats) eingedämmt, da kommt der Staat mit einer recht untauglichen Argumentation, um die Sammlung wieder einzuführen.
Unterm Strich sind die Freiheitsrechte, um die es geht, damals wie heute dieselben.