Seit einigen Jahren werde ich von Avaaz mit Mails bombardiert. Kampagnenaufrufe zu Onlinepetitionen sind die Kerntätigkeit der Organisation, die sich selber als „Kampagnennetzwerk, das mit Bürgerstimmen politische Entscheidungen weltweit beeinflusst“ sehen will.

Auf der re:publica 2014 hat Sascha Lobo in seiner „Rede zur Lage der Nation“ (Video siehe am Ende) auch Organisationen wie Avaaz und Campact kritisiert. Sie seien beim Thema ACTA auf einen fahrenden Zug aufgesprungen:

Nachdem aus dem Netz und den netzpolitischen Organisationen wie der Digitalen Gesellschaft mit ungeheurem persönlichen Einsatz Kampagnen- und Überzeugungsarbeit bei Politikern geleistet wurde, startete Avaaz eine Petition gegen ACTA und übergab die virtuellen Unterschriften kurz vor dem Tod des Handelsabkommens.

Und bekam Spenden für die Rettung des Abendlandes vor ACTA.

Ich habe mich nun näher mit Avaaz befasst und muss sagen: Clicktivism (also politischer Aktivismus per Like-Button oder Onlinepetition) ist nicht das einzige, was man an der Organisation aussetzen kann.

[GARD align=“right“]Gegründet wurde Avaaz im Jahr 2007 von Ricken Patel. Wikipedia zitiert im verlinkten Artikel (Stand: 13.5.2014), dass Patel schon mit drei Jahren „vom Kalten Krieg wusste und die Bestandteile einer Zelle aufzählen konnte“. Mir ist die Relevanz dieser Information zwar nicht klar, aber die Qualitätssicherung ist bei der englischen Wikipedia auch nicht so rigide wie bei der deutschen.

Nach dem Studium lebte er in einigen Krisenregionen und arbeitete dort für die International Crisis Group, deren englischer Wikipedia-Eintrag mit der Markierung „This article appears to be written like an advertisement.“ versehen ist.

Markierung am englischen Wikipedia-Eintrag der ICG

Markierung am englischen Wikipedia-Eintrag der ICG

Die ICG bezeichnet sich zwar ans NGO, wird aber (wie im nicht als Werbung beanstandeten deutschen Wikipedia-Eintrag ausdrücklich steht) „wesentlich von westlichen Regierungen, Stiftungen und Konzernen finanziert“.

Nach anderen Stationen gründete er schließlich 2007 Avaaz. Andere Gründungsmitglieder sind der Politiker Tom Periello von den Demokraten und Eli Pariser, der Geschäftsführer der demokratischen Vorfeldorganisation MoveOn.org.

Graswurzelrevoluzzer? Umsturz von unten? Nö. Avaaz ist eine Kampagnenorganisation der privilegierten demokratischen Oberschicht der USA. Wobei ich nichts gegen die Demokraten sagen will – sie sind für alle, die im deutschen politischen System links von der FDP stehen immerhin das kleinere Übel. Und jede politisch agierende NGO steht der einen Partei näher als der anderen.

Eine Kampagne bei Avaaz.org: Es werden Daten abgefragt.

Eine Kampagne bei Avaaz.org: Es werden Daten abgefragt.

Wer bei Avaaz eine der Onlinepetitionen unterschreibt, der muss dort Daten hinterlassen. Wie der Punkt „Mitglied des Avaaz-Netzwerks? Tragen Sie Ihre E-Mail-Adresse ein und drücken Sie auf ’senden'“ schon nahe legt: Es werden Daten über die Petitionsteilnehmer gespeichert.

Klar, Avaaz informiert ja auch über andere Petitionen, die gerade wichtig sind. Da braucht man Mailadressen und Namen schon.

Aber tatsächlich braucht Avaaz die Daten noch für etwas anderes: Wer eine Petition unterzeichnet ist dadurch automatisch Mitglied der Avaaz-Bewegung!

Bei allen Kampagnen ist das Gewicht der Organisation maßgeblich. Ein Kaninchenzüchterverein aus Daun in der Eifel wird kaum die Massen bewegen, wer mit hunderttausenden oder gar mehreren Millionen Mitgliedern wirbt, der hat Gewicht.

Über 35 Millionen Mitglieder, von denen die meisten das gar nicht wissen.

Über 35 Millionen Mitglieder, von denen die meisten das gar nicht wissen.

Die Mitglieder von Avaaz, diese 35 Millionen Menschen, wissen meist gar nicht, dass sie in dieser Zahl enthalten sind. Auch mir ist das erst bewusst geworden, als ich nach Sascha Lobos Rede recherchiert habe.

Wer bei Avaaz für die Rettung der Bienen vor Pestiziden unterschrieben hat, der ist jetzt in dieser Zahl enthalten und vergrößert Gewicht und Einflussmöglichkeiten, kurz: die Macht von Avaaz. Und nach dem Motto „35 Millionen Mitglieder können nicht irren, zeichnet auch diese Petition!“ wird auch er Teil der Masse, mit der Avaaz zum Beispiel 2011 Unterschriften für eine Flugverbotszone über Libyen forderte.

Nun ist das technisch sowas wie eine demilitarisierte Zone auf dem Boden, aber es lassen sich in der Luft keine Zäune bauen und keine Blauhelme stationieren. Vielmehr kann so ein Flugverbot nur mit massiver militärischer Präsenz durchgesetzt werden. Wie vielen der damaligen „Bewegungsmitgliedern“, die Avaaz das Gewicht verleihen, waren diese Petition und ihre Problematik bewusst?

Wie auch Sascha Lobo berichtete wirbt Avaaz auch um Spenden. Das ist klar: Ein solches Kampagnenportal kostet Geld. Dazu kommen die laut Wiipedia über 50 Mitarbeiter. Derzeit wird Avaaz nur durch Spenden seiner Mitglieder (siehe oben) finanziert, niemand darf mehr als 5000 US-$ spenden. Soweit ist das nicht zu beanstanden.

Um seine Unabhängigkeit zu sichern, versichert Avaaz, keine Spenden von Regierungen und Konzernen anzunehmen. Während sich die Organisation zur Zeit der Gründung aus den Spenden von Partnerorganisationen und anderen, karitativen Organisationen finanziert habe, soll sich ihr Budget heute zu knapp 90 % aus kleinen Online-Spenden zusammensetzen. Nähere Angaben macht Avaaz jedoch nicht. In einem Finanzbericht werden die jährlichen Ausgabenanteile aufgelistet. 2010 spendete die Stiftung von ihren Einnahmen in Höhe von gut 5,6 Millionen US-Dollar jedoch nur knapp 1,8 Millionen US-Dollar für humanitäre Zwecke.
(Quelle: Wikipedia, Hervorhebungen von mir)

5,6 Millionen Dollar sind nennenswerte Spendeneinnahmen, dass davon aber nur 1,8 Millionen wirklich humanitären Zwecken zuflossen, muss angesichts der vielen humanitären Petitionen von Avaaz transparent gemacht werden, um glaubwürdig zu sein. Der Deutsche Spendenrat würde Avaaz nicht empfehlen und nach deutschem Recht wäre es auch nicht gemeinnützig. Neben den Onlinepetitionen und der auch technischen Unterstützung von BürgerjournalistInnen in Krisenregionen sind ja humanitäre Hilfen ein Standbein von Avaaz.

Avaaz kämpfte gegen ACTA...

Avaaz kämpfte gegen ACTA…

Tatsächlich beschränkt sich die Arbeit von Avaaz von wenigen Ausnahmen abgesehen auf Clicktivism-Kampagnen. Sicher ist es gut, Regierungen zu zeigen, wie viele Menschen von ihnen ein Tun oder Unterlassen fordern. Aber eine zentrale Kampagnenplattform, die ungefähr jedes Thema von ACTA über Gentechnik, bienenschädliche Pestizide, Orang-Utans bis hin zu Friedensmissionen abdeckt, ist wie ein riesiges Einkaufszentrum.

Avaaz ist ein Unterzeichnungsmagnet. Wer eine Petition mitgezeichnet hat, der kann gar nicht anders, als andere Petitionen zu sehen und eventuell auch zu zeichnen. Und ab spätestens jetzt bekommt er immer wieder Mails, die ihn auf andere Kampagnen hinweisen. Kampagnen von Avaaz.

...und gewann?

…und gewann?

Bei ACTA war es so, dass die eigentliche Arbeit in den Gremien der nationalen Parlamente und der EU von Lobbyisten durchgeführt wurden. Lobbyisten aus netzpolitischen Vereinigungen wie der Digitalen Gesellschaft. Das sind die NGOs, die fundierte Informationen zu ihren Spezialthemen liefern können, die Handlungsbedarf erkennen und seriöse Kampagnen starten können.

Diese Tatsache wird von Avaaz aber nicht erwähnt. Auf der Kampagnenseite zu ACTA steht als aktueller Stand, dass „der Politiker, der für das Durchkommen des Gesetzes im Europaparlament verantwortlich ist“, die Ablehnung fordert.

So ein unkonkretes Geschwurbel ist an Dubiosität kaum zu überbieten. Tatsächlich hat Avaaz fast 3 Millionen Kampagnenklicks geliefert, aber nach meiner Recherche mit keinem einzigen EU-Politiker über ACTA gesprochen. Eine Kampagne, die Politik verändert, sieht anders aus und lässt keine ausschließliche Beteiligung per Mausklick vom Sofa aus zu.

Die Piratenparteien verschiedener Länder veranstalteten schon am 26. und 28. Juni 2010 Demonstrationen gegen das ACTA-Abkommen. Die Demonstrationen fanden in mehreren Ländern statt, darunter auch in einigen deutschen Städten. Organisator war hier die Piratenpartei Deutschland. Im Frühjahr 2011 folgten in ganz Europa weitere und bedeutend größere Demonstrationen, da die Ratifizierung des Gesetzes durch die EU-Länder näher rückte.
Quelle: Wikipedia

Der Aufruf von Wissenschaftlern und Juristen [PDF], ACTA nicht zuzustimmen, datiert auf den 4.10.2011, im Januar kam es z.B. in Polen schon zu Demonstrationen. Und der Kampf gegen ACTA endete tatsächlich erst mit der Abstimmung im EU-Parlament am 4.7.2012. Noch im Juni waren in vielen Städten Demonstrationen gegen das Handelsabkommen zu sehen.

Während Avaaz seine eigene Kampagne offenbar am 25.1.2012 startete und am 13.4.2012 schon die tolle Erfolgsmeldung publizierte, nach der offenbar kaum noch Klicks generiert wurden.

Avaaz hat uns also in weniger als zwei Monaten vor ACTA gerettet, während die Kampagnen der Netzaktivisten zwei Jahre dauerten!

Ähnliche Abläufe finden sich auch bei der Rettung der Bienen.

Das EU-weite Verbot der Insektizide finde ich als älteste Quelle im Januar 2013 bei Paradisi erwähnt. Die EU-Staaten waren sich einig, Bienen durch ein Verbot von drei Insektiziden zu schützen. Allerdings kam es im März zu einer Patt-Situation – unter Anderem Landwirtschaftsministerin Aigner stimmten erstmal gegen das Verbot und die Mehrheit war zwar da, reichte aber nicht. Am 29.4. berichtet die Tagesschau dann, dass Ilse Aigner einlenkt. Am 24.5. berichtet der SPIEGEL, dass das Verbot beschlossen sei.

Bienenkampagne 2013

Bienenkampagne 2013 – nei war sie so aktuell wie vor 12 Monaten.

Die sichtbare Kampagnenarbeit von Avaaz besteht aus einer Petition, deren Text auf den 24.4.2013 datiert ist. Im Mai 2013 wurden „der EU“ zwar 2,6 Millionen Unterschriften Klicks übergeben, wie an einigen anderen Stellen zu lesen ist, aber diese Petition hat ja noch nichtmal 200.000 Mitzeichner.

Hier haben also wieder Verbände (und da unter anderem die Imker) hinter den Kulissen politische Entscheidungen beeinflusst und kurz vor Zieleinlauf springt Avaaz auf den fahrenden Zug.

Und noch immer unterzeichnen Bienenfreunde den alten Hut.

Und noch immer unterzeichnen Bienenfreunde den alten Hut.

Interessanterweise ist die Petition noch heue online, über ein Jahr nachdem der Drops gelutscht war, und findet auch heute noch Mitzeichner!

Vermutlich fällt nicht vielen auf, dass Ilse Aigner seit September 2013 nicht mehr Bundeslandwirtschaftsministerin ist und das Datum des Postings, in kleinem Font und in grauer Farbe  unter dem Text, hat im Gesamtkontext den Charme einer Abofalle.

Man darf jetzt vermuten, dass es Avaaz nicht um den Erfolg der Kampagne geht, sondern um die Klicks, die neuen „Bewegungsmitglieder“ und Menschen, die gerne spenden.

Natürlich ist Avaaz nicht nur schlecht. Die Organisation lenkt die Aufmerksamkeit auf Probleme. Sie schafft das Bewusstsein. Auch die Unterstützung von Bürgerjournalisten in Krisengebieten durch Satellitentelefone und andere wichtige Hilfsmittel ist toll.

Aber: Die Aufmerksamkeit für Avaaz zieht zugleich die Aufmerksamkeit (und Mitstreiter und Spenden) von den NGOs ab, die im Hintergrund versuchen, Lobbyarbeit zu machen – etwas, das Avaaz mit knapp über 50 Mitarbeitern weltweit gar nicht leisten kann.

Weiterhin ist das Mission Statement von Avaaz ist so beliebig wie ein Horoskop. Es findet sich immer etwas, dem man zustimmt, und dennoch ist es so konsensuntauglich, dass man in einem Text von Douglas Adams lauthals darüber lachen würde, weil man weiß, dass es Satire ist:

 Das erklärte Ziel von Avaaz ist es, “gemeinsam die Lücke zwischen der Welt, die wir haben und der Welt, die sich die meisten Menschen überall wünschen, zu schließen.” (Wikipedia)

Avaaz könnte Kräfte bündeln, indem es nicht den Anschein erweckt, mit seinen 50 Mitarbeitern weltweit die Themen Klimawandel, Menschenrechte, Tierschutz, Korruption, Armut und Konflikte mit groß angelegten Kampagnen bedienen zu können. Avaaz könnte stattdessen Petitionen mit Partnern verknüpfen. Bei ACTA wären Links zu den im jeweiligen Land ansässigen netzpolitischen Organisationen angemessen gewesen. Die gab es aber nicht.

Generell führt Avaaz auch mit seinen irrsinnigen Erfolgsmeldungen dazu, dass Onlinepetitionen überbewertet werden. Sie sind geeignet, um Meinungen zu zeigen und auf ein Thema aufmerksam zu machen. Aber wirklichen politischen Einfluss haben sie nur zu ein paar Promille.

Ausnahmen sind hier in Deutschland lediglich die Petitionen auf dem Petitionsserver des Deutschen Bundestages. Der Petitionssausschuss lebt die Praxis, sich mit E-Petitionen über dieses Portal, die ausreichend Mitzeichner habenm, tatsächlich zu befassen. Auf diese Weise konnte das Netzsperrengesetz überhaupt erneut in die Erörterungen gebracht werden – bei einer Petition auf Avaaz.Org wäre das garantiert nicht passiert.

Und hier jetzt Sascha Lobos Rant. Avaaz und die durch ACTA generierten Spenden erwähnt er ungefähr ab 7:50.

Kategorien: Allgemein

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tho
10 Jahre zuvor

Eigner oder Aigner?