Ich habe mal gelernt, dass die Diagnose „ADHS“ kongruent zu den Problemen ist, die viele Menschen heutzutage haben, wenn sie mit Kindern umgehen. Das klingt plausibel und scheint nicht weit neben der Wahrheit zu liegen.

Von 2006 bis 2011 stieg die Zahl der ADHS-Diagnosen um 49%, berichtete die BARMER. Die Verschreibungen von Methylphenidat, also meistens Ritalin, stiegen im selben Zeitraum um 39%.

Zugleich mehren sich die Stimmen derer, die ADHS als eine von der Pharmaindustrie bezahlte Diagnose sehen: Sie haben eine Lösung (Methylphenidat) und bastelten sich ein Problem zurecht, auf das sie passt.

Diese Meinung findet man sowohl bei den üblichen Verdächtigen, die auch über Chemtrails berichten und für die AIDS und Ebola entweder nicht existieren oder aber gezielt von dubiosen, klandestinen Verschwörern und Geheimlogen verbreitet werden, als auch bei seriösen Ärzten und Psychologen.

Andererseits gibt es immer wieder Gespräche von Eltern mit ErzieherInnen oder LehrerInnen, in denen man das Gefühl hat, dass seitens des Profis die Symptome von ADHS nach dem ICD-10 nett paraphrasiert wurden. Das gleiche gilt für Grundschulzeugnisse, die ja ausführliche textliche Beurteilungen enthalten.

Sowohl für Eltern, die im Beruf stehen (weil sie beispielsweise alleinerziehend sind) als auch für LehrerInnen und ErzieherInnen, deren Klassen bzw. Gruppen einfach zu groß sind, hätte ADHS bei einem nicht ganz so pflegeleichten Kind Vorteile: Sie sind aus der Verantwortung.

Die Kleine hat eine katastrophale Rechtschreibung? Das ist das mit der Konzentration, aber immerhin wurde sie versetzt, das ist für ein ADHS-Kind schon eine Hürde!

Ich habe für Menschen, die sich eine derartige „externalisierte Verantwortung“ wünschen, Verständnis. Es macht das Leben leichter. Auch verstehe ich die grundlegenden Bedenken der Verschwörungstheoretiker: Kindern Psychopharmaka zu geben ist bedenklich und kann nur als Ultia Ratio gelten, was angesichts der vielen Packungen Ritalin, die über die Theke gehen, schonmal schwierig zu vermitteln ist.

Ich kenne selber mehrere Erwachsene mit der Diagnose AD(H)S (nicht jeder ist auch hyperaktiv) und weiß von mehreren Kindern. In allen Fällen ist es so, dass die Ritalingabe hilfreich ist und bei den Erwachsenen auch als positiv berichtet wird. Sie können sich auf ein Thema oder eine Aufgabe focussieren, schaffen ihre Arbeit. Sie leiden ansonsten unter der nicht aufgeräumten (mitunter sogar vermüllten) Wohnung, unter den Beziehungskonflikten und den zwischenmenschlichen Problemen, ihrem unkontrollierten Jähzorn.

Voraussetzung dafür, dass AD(H)S und andere Krankheiten mit ähnlichen Symptomen korrekt behandelt werden, ist aber eines: eine seriöse Diagnose. Ein „gefühltes“ oder sogar erwünschtes ADHS ist kontraproduktiv, wie auch die Ärztezeitung berichtet.

Eine seriöse Diagnose ist hingegen langwierig, was tatsächlich auch in meinem Bekanntenkreis zu „Diagnosen“ durch Kinderärzte führte, die mehr auf Berichten der Eltern beruhten als auf selbst erhobenen Symptomen. Und die zwar zur Ritalingabe führten, was sich aber als Schuss in den Ofen erwies und andere unerwünschte Symptome hervorrief.

Eine Diagnose sollte daher auf alle Fälle von einem Kinder- und Jugenpsychiater zumindest begleitet werden. Und sie ist nicht nur für den Mediziner, sondern auch für das soziale Umfeld des Patienten Arbeit:

Die Diagnose wird anhand klinischer Symptome gestellt, wobei die Symptomatik an mehreren Orten unabhängig voneinander länger als 6 Monate aufgetreten sein muss. Daher sind Fremdbeurteilungen (Lehrer- oder Erzieherurteile) wichtig. Unterstützt wird die Diagnostik in der Regel durch Intelligenz- und Konzentrationstests. Bei ADS oder ADHS liegt zwischen der Intelligenz- und der Konzentrationsleistung häufig eine deutliche Diskrepanz (allerdings nicht immer, da Tests z.B. den Schulalltag nur zum Teil abbilden können). Eine fundierte Diagnostik erfordert einen erheblichen Zeitaufwand und entsprechende klinische Erfahrung.
(Quelle)

Leider haben viele Eltern Angst vor einr Stigmatisierung ihrer Kinder durch die Diagnose und verschleppen eine entsprechende Untersuchung. Das ist kritisch, denn der Verdacht auf ADHS ist nie völlig aus der Luft gegriffen, kann aber auf mehrere Besonderheiten (ich vermeide gerne das Wort Erkrankungen) hinweisen, bei denen Menschen Hilfestellungen und Therapien bekommen können:

Andere Störungen, die ähnliche Symptome verursachen können, sind z.B. Leistungsängste mit Konzentrationsblockaden, autistische Störungen sowie frühkindliche Traumatisierungen oder Bindungsstörungen.

Also lohnt sich die Diagnose auf alle Fälle, wenn ein Verdacht besteht. Und wenn es nur ist, um ADHS auszuschließen. In vielen Fällen reichen einige Untersuchungen eines Kinder- und Jugendpsychologen, oft auch ein IQ-Test, um ADHS auszuschließen oder festzustellen, dass man weiter einsteigen muss.

Warum gibt es nun so viele „gefühlte“ Diagnosen?

Das ist relativ einfach. Die Symptome sind Verhaltensweisen, die im Prinzip jedes Kind mal zeigt. Jedes Kind ist mal unkonzentriert, hört nicht, was gesagt wird, verliert Gegenstände, ist ablenkbar. Oder zappelt unruhig, ist übermäßig laut, antwortet, bevor die Frage gestellt ist oder fällt im Gespräch ins Wort.

Wichtig ist Quantität und Qualität dieser Verhaltensweise. Aus insgesamt vier Blöcken müssen Symptome über sechs Monate beständig in einem nicht zum Alter passenden Ausmaß vorhanden sein. Alleine beim Block „Unaufmerksamkeit“ müssen laut ICD-10 über sechs Monate kontinuierlich zehn Symptome beobachtet sechs oder mehr davon durchgehend erkannt werden.

Die Symptome müssen zudem sowohl zu Hause als auch in Schule und Kindergarten unabhängig von einander vorliegen. Ist das Kind zu Hause unauffällig, zeigt die Symptome aber in der Schule, dann hat es kein ADHS, aber möglicherweise ein Problem mit der Situation in der Klasse (oder umgekehrt). Wer also vermutet, dass das eigene Kind oder eines in der Klasse ADHS hat und auf eine Diagnose hinaus will, sollte daran denken, dass diese Diagnose mit sechs Monaten Arbeit verbunden ist.

Wenn ein halbwegs begründeter Verdacht auf ADHS besteht, sollte auf alle Fälle eine seriöse Diagnose erfolgen oder der Verdacht nicht mehr erwähnt werden.

Jedes Kind, das mit einer individuellen Therapie – auch Medikamenteneinsatz – einen Schulabschluss schafft, den es sonst nie erlangen würde, ist ein Gewinn.

Jeder Erwachsene, der dank Therapie und Medikamenten ein selbständiges Leben mit normalen Emotionen und sozialen Kontakten führen kann, ist ein Gewinn.

Jeder Mensch, bei dem eine vermutete AD(H)S-Diagnose seriös ausgeschlossen wurde, bei dem dadurch vielleicht sogar ein ganz anderes Krankheitsbild entdeckt und behandelt werden konnte, ebenso.

AD(H)S existiert.

Und die Betroffenen haben einen Anspruch auf seriöse und professionelle Hilfe.

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Michaela
10 Jahre zuvor

Danke, Danke, Danke für diesen Bericht.
Endlich ein Bericht, eine Ansicht – die ich seit Jahren, teilweise zwecklos, versuche dem Umfeld klar zumachen. Kaum einer, außer die „Echt“-Betroffenen konnten es nachvollziehen und verstehen.
Beschimpfungen, Ausschluß vom Umfeld waren normal, tolle Ratschläge – ach das sind die, die nicht alles essen dürfen, … mußt dem Bub halt mehr Aufmerksamkeit widmen, dann hat er auch kein Defizit, … außerdem stimmt das ja alles nicht, hat doch der Erfinder auf seinem Totenbett gebeichtet etc. pp
Ich könnte ein dickes Buch über unseren Leidensweg schreiben, aber wir haben es, incl. Methylphenidat, unzähligen Therapien, Homöopathie, Gutachten, Betreuungen, Schulwechsel gewuppt.
Heute ist der Bub 😉 22 und kann es relativ gut händeln.
Nochmals danke. Liebe Grüße Michaela 🙂