Antje Schrupp bezweifelte auf Twitter, dass die Nichtwähler Schuld am guten Abschneiden der AfD sind. Ursache sei vielmehr das Nazi-Potenzial unserer Gesellschaft. Ich finde, dass es ein Synergieeffekt beider Ursachen ist.
Der Erfolg der Rechtsextremen hat nichts mit Nichtwählen zu tun, sondern mit der Größe des Nazi-Potenzials in unserer Gesellschaft. #kwhe
— Antje Schrupp (@antjeschrupp) 7. März 2016
Das Nazi-Potenzial in unserer Gesellschaft ist in der Tat groß. Wobei wir meiner Meinung nach zwischen mehreren Personengruppen unterscheiden müssen.
Tatsächlich ist „der komplette Nazi“ recht selten. Er ist Mitglied der NPD oder im rechten Flügel der AfD. Er will die Nationalität nicht am Pass, sondern an der Herkunft festmachen. Er unterscheidet den Wert des Individuums nach der Herkunft.
Er ist Ausländerfeind im Allgemeinen, Antisemit im Besonderen.
Genauso, wie es auch auf der eigentlich linken Seite des politischen Spektrums Antisemitismus gibt. Dann nämlich, wenn Linke für ein freies und unbesetztes Palästina eintreten und sich dabei in antisemitische Parolen versteigen, was nicht selten ist, wie aktuell in Berlin: Demonstranten mit „PLO-Schal“, der in meiner Jugend das Markenzeichen der Linken war, aber dabei auch Menschen, die den Hitlergruß zeigen.
Die linken DemoteilnehmerInnen sind nicht schon deshalb Nazis, weil sie zum Teil antisemitische Äußerungen von sich geben, sie sind aber Antisemiten und damit Teil des Nazi-Potenzials, denn Antisemitismus ist ein Kern des Nationalsozialismus‘.
Man kann der Meinung sein, dass die Existenz des Staates Israel völkerrechtlich gesehen illegal ist. Man kann der Meinung sein, dass die Art und Weise, mit der Israel gegen die Hamas vorgeht, überzogen ist. Auch, wenn beides im Jahr 2016 falsch ist, sind es immerhin begründbare und auf sachlicher, politischer Ebene diskutable Positionen.
Die Slogans waren zunächst die altbekannten: Von »Kindermörder Israel« bis hin zu »Apartheidsschweine« brüllten rund 30 Demonstranten vor dem Kino Moviemento am Kottbusser Damm im Berliner Bezirk Kreuzberg in Richtung einer in unmittelbarer Nähe stattfindenden israelsolidarischen Kundgebung so ziemlich alles, was gerade noch nicht justiziabel ist.
Spätestens bei „Kindermörder Israel“ liegt aber eine auf alten antisemitischen Legenden fußende Dämonisierung vor, die eben antisemitisch ist. Und es fällt antisemitischen Linken sehr schwer, ihren Antisemitismus zu erkennen – zu sehr hängen wir im politischen Links-Rechts-System fest.
„Antisemitisch? Ich? Das kann nicht sein, ich bin doch kein Nazi.“
Wenn aber sogar Linke Antisemiten sein können, schaffen sie Akzeptanz für antisemitische Ressentiments und damit für ein Kernthema des Nationalsozialismus. Auch, wenn sie nur diese eine monothematische Überschneidung mit der braunen Ideologie haben.
Momentan haben wir eine herbeigeredete Flüchtlingskrise, die eigentlich wahlweise eine paneuropäische Solidaritätskrise oder eine innerdeutsche Inkompetenzkrise ist. AfD, CSU, *GIDA, NPD & Co nutzen die Situation.
Menschen mit kultureller und ethnischer Distanz zur etablierten Bevölkerung kommen zu uns. Kulturelle oder ethnische Distanz kann leider Vorbehalte gegen eine Person hervor rufen.
Vorbehalte führen zu Ängsten. Ängste sind irrational und können durch die richtigen Trigger noch gesteigert werden.
Arbeitsplatzverlust, (sexuelle) Gewalt, Diebstahl, Ausmerzen des eigenen Volks. Identitätsverlust. Chaos. Apokalypse. Die diffusen Ängste werden benannt und dadurch intensiviert.
Die AfD und andere Parteien am rechten Rand haben nun durch diese Ängste auch Menschen mit Nazi-Potenzial als Wähler gewonnen, die weit von sich weisen würden, Nazis zu sein. Sie schüren die Ängste, nutzen, dass andere, noch radikalere Gruppen die Ängste schüren, und bieten einfache, aber vermeintliche Lösungen und Schutz an.
Insofern hat Antje Schrupp Recht, dass wir ein problematisches Nazi-Potenzial haben, das als ein Stellrad in die Wahlergebnisse einfloss.
Aber auch die geringe Wahlbeteiligung ist so Stellrad. Wir hatte bis zur Wiedervereinigung eine durchaus hohe Wahlbeteiligung, die dem Rational-Choice-Ansatz der Wahltheorie widersprach:
Der Rational-Choice-Ansatz geht von einer rationalen Entscheidung des Wählers aus. Als rational gilt das Verhalten eines Wählers dann, wenn es ihm bei geringstmöglichem Aufwand größtmöglichen Nutzen verspricht. […]
Ein großes Problem des traditionellen Rational-Choice-Ansatzes ist, dass er die in Deutschland und anderen Ländern bei Wahlen auf nationaler Ebene anzutreffende relativ hohe Wahlbeteiligung nicht erklären kann. Denn es ist für den Wähler eigentlich nicht rational, sich überhaupt an der Wahl zu beteiligen: Da die eigene Wahlstimme mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht entscheidend für den Wahlausgang ist, kann der Wähler der Wahl genauso gut fernbleiben und erspart sich damit den mit der Wahl verbundenen Aufwand, ohne jedoch auf den erwarteten Nutzen eines bestimmten Regierungshandelns verzichten zu müssen.
Die ungefähr seit der Wiedervereinigung stetig sinkende Wahlbeteiligung entspricht jedoch wieder dem Rational-Choice-Ansatz. Nach 14 Jahren unter Helmut Kohl, in denen oft keine Zusammenhänge zwischen Wahlversprechen und Regierungshandeln zu erkennen waren, nach den Regierungswechseln, die in der Kanzlerschaft von Angela Merkel mündeten, in denen auch wieder zwischen Wahlversprechen und Regierungshandeln eine Schere klaffte (siehe als Beispiel das plakative Versprechen der Kanzlerin, mit ihr gäbe es keine Pkw-Maut), nach all dem sieht ein wachsender Anteil der WählerInnen, die sonst SPD, CDU, FDP oder Grüne ankreuzen würden, keinen Sinn mehr, zur Wahl zu gehen:
Die Politikwissenschaftler haben je nach Sichtweise drei bis sieben unterschiedliche Typen von Nichtwählern identifiziert. Klar scheint zu sein, und das hat sich besonders in Bremen gezeigt, dass politische Apathie mit sozialer Deklassierung einhergeht. Es gibt aber inzwischen auch einen antiparlamentarischen Affekt, der aus der Mitte der Gesellschaft und aus den Eliten kommt. Der zeigt sich in einem öffentlichen Diskurs, in dem Politiker und Parteien per se verachtet werden und dem Parlament als Institution nicht mehr viel zugetraut wird.
Die gerade in der Flüchtlingsfrage (aber auch bei der Pkw-Maut, dem Mindestlohn und anderen für den sogenannten Kleinen Mann wichtigen Themen) dauerverkrachte Große Koalition macht es spätestens bei der Bundestagswahl noch schwerer. Egal, wer von den etablierten Parteien die Regierung stellen wird – was an Politik rauskommt ist kaum im Ansatz vorhersehbar.
Wer von den Ängsten, die *GIDA, AfD & Co schüren, getrieben wird, hofft auf Schutz und Hilfe vor den „Invasoren“ und wählt AfD oder gar NPD. Dass die AfD bei den Kommunalwahlen in Hessen zweistellige Ergebnisse hatte, in den Wahlkreisen ohne AfD-Kandidaten das gleiche aber oft für die NPD galt, zeigt nicht nur die thematische Nähe der Parteien, sondern auch die Wirkung der Angst, die auch von der CSU und größeren Teilen der CDU genährt wird.
Hier ergänzen sich zwei Effekte: Die Frustration der nicht so leicht radikalisierbaren WählerInnen, die bei den etablierten Parteien keine ausreichenden Kontouren oder kein vertrauenswürdiges Personal sehen. Sie verweigern die Wahl und erhöhen damit das Gewicht jeder einzelnen abgegebenen Stimme ein wenig. Auch und gerade die Stimmen der von Angst oder Radikalisierung getriebenen WählerInnen der Protest- und Randparteien, von denen viele nach meiner Beobachtung seit längerer Zeit das erste Mal überhaupt den Urnengang antreten.
Und diese WählerInnen sehen dann am Abend ein Ergebnis ihrer persönlichen Wahlhandlung: Sie sehen 14% Stimmen für die AfD in ihrer Stadt. Sie haben etwas bewirkt, nämlich Aufmerksamkeit. Sie gehören dazu. Dass die AfD für die meisten Menschen mehr Probleme schaffen als lösen würde, wenn sie die Regierung stellte, ignorieren sie oder haben sich gar nicht so tief mit der Partei befasst, dass sie es erkennen könnten.
Es ist unsere Aufgabe, nicht nur zur Wahl zu gehen, sondern dies auch von anderen einzufordern. Lehrer, deren Schüler schon Wahlfrust zeigen, bevor sie das erste Mal wählen dürfen, gehören mit dem nassen Handtuch durch den Stadtpark gejagt.
Es ist die Aufgabe der Parteien, verlässliche Konturen zu zeigen und dadurch vertrauenswürdig zu sein. Keine Vorratsdatenspeicherung heißt dann nicht, die VDS unter dem nächsten Decknamen doch durchzusetzen und zu vertreten.
Es ist Aufgabe der Regierungen, Ängste und Sorgen der BürgerInnen ernst zu nehmen, aber nicht mit denen einen Dialog zu führen, die die Ängste ausnutzen und schüren.
Wir haben viel zu tun.
Wir alle.
Als Gesellschaft.
Man könnte an vielen Stellen einhaken, richtig hängengeblieben bin ich hier:
„Die diffusen Ängste werden benannt und dadurch intensiviert.“
Ich kenne es aus einem anderen Zusammenhang, bestimmte Dinge nicht erwähnen zu sollen, „weil die Leute dann nur Angst kriegen“.
Beim Thema „Was die Jobcenter so alles mit Erwerbslosen durchziehen können, wenn ihnen danach ist.“
Das führt zu einem unehrlichen und anti-emanzipatorischen Umgang der einen Erwerblosen („Aktive“, „BeraterInnen“) mir den anderen Erwerbslosen („Betroffene“).
Dabei gibt es durchaus welche, die es auch selber nicht so genau wissen wollen und lieber diffuse Ängste haben (also in dem Fall Angst vor dem Jobcenter), die sie hoffen, ignorieren zu können.
Auf der anderen Seite hilft es aber vielen, sich eben bewußt damit auseinanderzusetzen, was alles passieren kann, und Gegenstrategien zu entwickeln.
Ängste zu benennen, ist nichts Schlimmes. Es ist die Voraussetzung, mit Ängsten umzugehen. Es ist die Voraussetzung, zu sortieren, was Angst ist, und was ein Realitätscheck ist.
Schlimm ist es, wenn man gerade daran gehindert wird, wenn Ängste geschürt und zum Beispiel wirre Gerüchte als Fakten dargestellt werden.
Möglicherweise hab ich das etwas „unrund“ formuliert. Ängste sind etwas ganz normales und beispielsweise die ARGEn würden ohne Ängste vor Konflikten und Sanktionen nicht „funktionieren“. Angst haben zu können und zu haben ist menschlich.
Man kann mit Ängsten aber auch spielen und sie manipulieren. Wer anfangs wegen Angst vor Konflikten im Beruf Einschlafstörungen hat, erlebt oft, dass die Angst vor dem eigentlichen Problem im Beruf durch eine Angst abgelöst wird nicht schlafen zu können und wegen Übermüdung und Schlechtleistung Probleme im Beruf zu bekommen. Das liegt daran dass uns Ängste Angst machen und wir ihre Ursachen daher oft nicht sehen wollen.
Das liegt daran, dass diffuse Ängste oft nicht formuliert, ausgesprochen werden. Wenn ich die diffusen Ängste der Menschen nehme und eine Gefahr konstruiere, auf die sie projiziert udimit einem Namen versehen werden, habe ich gewonnen. Die allgemeine Existenzangst, die bei vielen Menschen manifeste Angst vor Veränderungen, die schiebe ich „denen“ in die Schuhe.
Das diffuse Feindbild der Neuen Rechten bietet für jeden was: Natürlich wollen wir geflüchteten Menschen helfen, aber die Wirtschaftsflüchtlinge, die ein zu vernachlässigender Teil sind kann man instrumentalisieren, um die Angst auf die Menschen zu projizieren, die zu uns kommen.
Angst vor (sexualisierter) Gewalt und Tod haben wir alle, und das Narativ der Fremden jungen Männer, die angeblich nur zum Vergewaltigen zu uns kommen, passt da genau. Dann ist da die „Invasion“, von der z.B. Lutz Bachmann spricht, die den Flüchtlingsstrom zu einer kriegerischen Handlung macht, Verschwörungstheorie vom UN-Plan alle Deutschen durch Flüchtlinge zu ersetzen, die Vorbehalte gegen den Islam an sich, all das gibt eine schöne Melange an Angstursachen, die auf alle Fremden und alle Nachfahren von Fremden, die längst Deutsche sind, passen.
Man kann Ängste bekämpfen, indem man Fakten liefert und sie zunächst auf intellektueller Ebene ausräumt. Dazu muss die eigentliche Angst, meist die vor dem Unbekannten, das mit oder ohne Flüchtlinge nunmal auf uns zu kommt, aber erstmal identifiziert werden.
Wenn Sigmar Gabriel zu den PEGIDA-Organisatoren geht und ihre Ängste ernst nimmt, ist das genau falsch, denn die Ängste dort sind schon verfälscht und manipuliert. Die Neuen Rechten haben sehr hermetische Privatrealitäten aufgebaut, in denen alle objektiven Fakten diskreditiert sind („Lügenpresse“).
Wir müssen daher früher ansetzen und außerhalb der Neuen Rechten die Ängste bearbeiten (lassen).