Im November war es soweit: Ich wurde offiziell und mit Urkunde in den „Club der Alten Säcke“ aufgenommen. 50 wurde ich und auch nachdenklich.

Und passenderweise hat Frau Quadratmeter kürzlich einen Stein geschubst, der jetzt rollt und weitere Artikel zum Thema Älterwerden herbei ruft.

Ich erinnere mich an eine Angst – oder war es eine traurige Gewissheit? – aus meiner Jugend.

Gerade emanzipierte ich mich von meinen sparwilligen Eltern und den von Mutter selbst genähten „Jeans“ und fand einen eigenen Stil aus Nichtmarkenkleidung.

Ich trug Jeans und T-Shirts aus preiswerten Läden, fühlte mich wie ein Hippie und sah die Elterngeneration in Hosen, deren Bügelfalten heute als gefährliche Teile gelten würden. Und Faltenröcken. Eltern, die Jeans trugen? Ja nu, die gab es, aber halt in Bundfaltenjeans.

„Mit 30 sitzt Du auch abends auf dem Sofa, versaust Dr die Bügelfalte, trinkst Bier und guckst fern.“ dachte ich. Das ist Gesetz.

Und wirklich trat ich ungefähr in die Fußstapfen meines Vaters, der Berufssoldat war, und verpflichtete mich zu drei Jahren Bundeswehr. Ich hatte nach dem Abitur keine Ahnung, was ich machen sollte, brauchte aber für alle interessanten Studiengänge Wartezeit und hielt das für eine gute Idee. Danach wurde ich Wirt, also Verwaltungswirt mit Diplom, geriet aber versehentlich in die EDV statt in die Verwaltung.

Als ich 30 wurde, 1995, trug ich keine Hosen mit Bügelfalten, aber manchmal komische Strickjacken, war frisch verheiratet und schien wohl erwachsen zu werden.

Außerdem nahm ich zu und das Haar wurde immer weniger. Als unerklärliches Paradoxon wurden Friseure immer umfangreicher mit ihren Vorschlägen, was sie „daraus“ machen könnten und den Erklärungen, was ich mit dem Haar dann jeden Morgen machen müsse, damit es nicht wie ein überfahrenes Rebhuhn aussieht.

Um die Kurzatmigkeit beim Treppensteigen zu bekämpfen ging ich in ein Sportstudio. Ich trennte mich von meiner Frau, zog aufs Land. Wurde Vegetarier. Kämpfte gegen eine Nerzfarm. Trat einer Partei bei und mischte mich in die Kommunal- und Landespolitik ein, gründete mehrere Vereine. Fing ein Studium an der Fernuni an und bildete mich auch journalistisch und psychologisch weiter.

Den Friseur hatte ich inzwischen gegen einen Langhaarschneider eingetauscht, der nicht über Haarwachs und Coffeinshampoo diskutieren wollte, sondern das, was ich auf dem Kopf hatte, einfach auf 3mm trimmte.

Im Jahr, in dem ich 40 wurde, war unser erstes Klassentreffen. Mein Abiturjahrgang war wie die Mailboxszene zehn Jahre zuvor: bunt. Einige trugen Hosen mit Bügelfalten und Faltenröcke, ich war aber nicht als einziger in Jeansjacke und Jeans dort. Wie ich halt auch im Büro so rum lief. Und bis heute rum laufe.

Und ich erhielt von mehreren Schulkameradinnen (nicht den Jungs) die Rückmeldung, cool auszusehen. Was mich irritierte. Während der Schulzeit versuchte ich, cool zu sein.

Hatte nicht so geklappt, glaub ich.

Mit dreißig war ich definitiv nicht cool, war ich es mit 40? Tatsächlich war meine Kleidung gar nicht so anders als die, die 1984 in Mode war.

Kurz darauf war ich wieder Single und dachte viel über Alter und Erwachsensein nach. „Vierzig ist das neue Dreißig“ hieß es. Ich ging auf Ü30-Parties. Lernte autodidaktisch Gitarre spielen und in Kursen Salsa. Ich empfinde das Erlernen neuer Dinge als jung, erkannte ich. Wenn ich nicht lerne, altere ich. Wenn ich lerne, werde ich jünger.

Ich ging sehr viel in Sportstudios, da ich merkte, dass die körperliche Fitness nachließ, wenn ich es nicht tat. Mit Mitte dreißig hatte ich das erste Mal Ischias, mit Anfang vierzig das zweite Mal.

Seit fast zehn Jahren habe ich eine Lesebrille, seit fünf Jahren immer wieder Luxusprobleme mit einem Ganglion am Zeh. Es wird immer schwieriger, Gewicht wieder los zu werden.

Da ich aus aus biologischen Gründen nur mit viel Aufwand eigene Kinder zeugen kann, habe ich mich mit Anfang 40 sterlisieren lassen, weil ich mich für zu alt hielt. Es ging dabei nicht nur im die bekannten, ab dem dreißigsten Lebensjahr wachsenden, Risiken wie Trisomie & Co, sondern darum, dass ich bei der Abiturfeier des Kindes nicht schon im Ruhestand sein möchte.

Ich erinnere mich an eine Szene auf einer Party. Es war vermutlich keine Ü30, da auch sehr junge Gäste anwesend waren. Zusammen mit einer Freundin betrachtete ich die jungen Leute.

Auch sie emanzipierten sich von der Elterngeneration: durch Tunnels in den Ohrläppchen, Piercings und Tattoos. Meine Untätowiertsein, mein Ungepiercedsein, die nicht in den Knien hängende 501, könnte das aus der Sicht dieser Leute am Ende das sein, was für mich Sofa, Fernsehen und Hose mit Bügelfalte war?

„Möchtest Du nochmal so jung sein, wie die?“ fragte die Freundin mich. Ja und nein. Wir beide wollten es schon sein.

Aber nicht ohne die Erfahrungen, die wir in den zurückliegenden Jahrzehnten gemacht hatten.

Geistig ist es leicht, jung zu bleiben, wenn man neugierig ist. Körperlich ist es schwieriger, nicht zu schnell alt zu werden. Die Art und Anzahl der überfälligen Vorsorgeuntersuchungen wächst und wenn der aktuelle Hauskauf und Umzug abgewickelt ist, werde ich wohl wieder viele Wartezimmer von innen sehen und anschließend Diagnosen googlen.

Die aktuell verstorbenden Prominenten haben einen immer geringeren Altersunterschied zu mir: Roger Willemsen 10 Jahre älter, Guido Westerwelle fünf Jahre älter, Roger Cicero fünf Jahre jünger.

Wir streamen gerade die Serie Forever, in der es um einen Arzt geht, der seit 200 Jahren immer, wenn er stirbt und sofort wieder als gesunder Erwachsener in einem See oder Fluss auftaucht.

Der „Doctor“ aus der Serie Dr. Who ist Timelord und kann sich nach dem Tod bis zu 12 Mal regenerieren, Captain Jack Harkness, eine weitere Serienfigur, stirbt auch regelmäßig, woraufhin sich sein Körper wieder repariert und er wieder zum Leben erwacht. Die Filme über den Highlander, Vamprgeschichten wie Twilight, oder Figuren wie „Wowbagger, the infinite prolonged“ aus „Per Anhalter durch die Galaxis“.

Menschen bezahlen dafür, sich nach dem Tod einfrieren zu lassen, damit eine nachfolgende Generation sie mit fortgeschrittener Wissenschaft wieder auferwecken kann.

Warum sollte sie das überhaupt wollen?

Es gibt Nahtoderlebnisse, aber noch niemand konnte dem Tod in seinem endgültigen Stadium entrinnen und uns valide berichten, was dann kommt oder ob es wirklich einfach aus ist. Also wollen wir hoffen.

Biologie und Medizin suchen die Gründe dafür, dass die Qualität neuer Zellen bei uns über die Zeit abnimmt, und wollen gegensteuern.

Religionen bieten uns ein Leben nach dem Tod oder eine Wiedergeburt – dass hinterher einfach alles zu Ende sein soll, dagegen sträubt sich unser Geist.

Die Angst vor Hinfälligkeit und Tod, die mit dem Älterwerden zwangsläufig verbunden sind, treibt die Menschheit um und macht sie auf vielen Ebenen kreativ.

Die Angst vor Sofa, Bügelfalten und Fernsehen war die rebellische Angst, so zu werden, wie die eigenen Eltern. Daher ist ein großer Teil meiner Generation nicht so geworden und trägt zumindest in der Freizeit richtige Jeans und T-Shirt. Die nachfolgende Generation wird eine andere Diskriminante finden, um sich abzugrenzen.

Erkennt man das, sieht man, dass die Angst vor dem Älterwerden nicht nur verwoben ist mit der Angst vor dem Tod, nein. Sie ist die Maske, welche die Angst vor dem Tod trägt, damit wir sie mit 18, 25 oder 30 nicht einfach auslachen.

Ich bin 50. Der Vorbesitzer und Bauherr des Hauses, das ich gerade verkaufe und in dem ich fast zwei Jahrzehnte lebte, wurde beinah 100. Wie haben viele Menschen, die älter als 90 sind, im Dorf.

Nach dem Umzug gehe ich wieder ins Sportstudio.

 

 

Kategorien: Allgemein

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