Über den schleichenden Suizid der Tagespresse hatte ich schon mehrfach geschrieben. Nun hat es unter anderem die Westdeutsche Zeitung und die WELT erwischt. Sie wissen es nur noch nicht.
Vor ein paar Wochen hat die Westdeutsche Zeitung ihren Internetauftritt auf einen neuen Level gehoben. Während man bislang alle Artikel frei lesen konnte und durch Werbeeinblendungen finanzierte, ist nun ein Bezahldienst namens PaidTime aktiviert worden.
PaidTime ist eine Eieruhr, die beim Lesen der Artikel mitläuft. Über Cookies und Scripte wird nachgehalten, wie lange man Artikel der WZ gelesen hat – nach fünf Minuten pro Tag endet die freie Nutzung und man darf nur weiterlesen, wenn man ein Zeitenkontingent erworben hat. Immerhin wird die Zeit, wenn man den Tab mit einem Artikel nach hinten klickt, angehalten.
Bloß:
- Die Werbeeinblendungen, die die Website sehr träge und behäbig auf Klicks reagieren lassen, sind nach wie vor da. Ich kam eben alleine auf Grafiken von vier externen Domains, die eingebunden werden. Die Ladezeiten zählen offenbar zu den freien fünf Minuten.
- Ein Klick am Tag auf einen Artikel der WZ, der auf Facebook verlinkt wird, erschöpft die fünf Minuten bereits
- Es ist ohne Abo keine Recherche nach Artikel möglich, die Suche nach dem WZ-Artikel über den neuen WZ-Internetauftritt verbrauchte bei der miesen Performance der Website meine fünf Minuten, bevor ich den Artikel gefunden hatte.
Die Westdeutsche Zeitung ist für mich daher dysfunktional geworden. In einer lokalen Facebook-Gruppe, in der eine WZ-Redakteurin mit quasi amtlichem Account (sie hat ein „WZ“ hinter ihren Nachnamen gestellt) Artikel postet, konstatierte man bereits, dass diese Artikel nunmehr uninteressant seien.
Was ist das Problem? Es ist der siebenhundertdreiundfünftigtausendste Account (auch, wenn der über Facebook authentifiziert wird), dessen Existenz man aus Sicherheitsgründen eigentlich nachhalten sollte, es ist das schrillionste Mini-Guthaben, das man irgendwo im Internet hat und wieder vergisst.
Für typische sporadische Leser des 21. Jahrhunderts, die nicht eine Zeitung kaufen und durchblättern wollen, sondern das lesen möchten, was ihre Filterbubble ihnen kuratiert, ist das ein Hemmnis.
Die Rheinische Post ist etwas weniger sperrig bei der Umsetzung ihres Bezahlkonzeptes. Pro Monat darf jeder eine Hand voll Artikel gratis lesen. Auch das wird über Cookies nachgehalten, ist aber durch Öffnen der Links in einem Incognito-Fenster oder -Tab leicht auszutricksen.
Aber wozu baut man bitte eigene Bezahlsysteme, errichtet eine eigene Paywall, wenn es doch einen Dienst wie Blendle gibt?
Zugegeben – das Austricksen ist nicht Sinn der Sache, aber auf eine Weise eine Notwehrhandlung.
Spüre in letzter Zeit vor Paywalls oft Erleichterung: Muss ich das nicht auch noch lesen und kann das Tab gleich wieder schließen.
— Kathrin Passig (@kathrinpassig) 14. April 2016
Genau aus diesem Grund fiel mir ein Stein vom Herzen, als ich einen vom Titel her interessanten Artikel anklickte, den die WELT auf Facebook sogar bewarb. Ich sah, statt des Textes, dieses hier:
Das finde ich beruhigend, so muss ich die Artikel aus diesem Springer-Blatt nicht mehr lesen.
Denn obwohl die WELT auch Artikel auf Blendle vertreibt, ist hier kein Link auf den Kiosk- und Micropaymentdienst vorhanden.
Super Idee. Ein Anruf, der einen beim Lesen unterbicht und die Sache wird richtig teuer. Der Minutentakt der Deutschen Bundespost aus dem Modem-Zeiten ist zurück.
Ohne Bezahlen, aber ebenso nervig gibt es das inzwischen allerdings fast überall. „Schön daß Sie wieder da sind, Sie haben zuletzt xxxx gelesen, aber es gibt jede Menge viel neueren Scheiß auf unserer Startseite, wollen Sie nicht lieber da hin?“.
Yep. Besonders, wenn ich morgens die interessanten Links in neuen Tabs öffne, um sie im Laufe des Vormittags zu lesen: Die eine Hälfte will inzwischen Geld, die andere nörgelt, dass in den letzten acht Minuten ein viel neuerer Artikel online gegangen ist.
Was soll das? Wer denkt sich das aus? Ist der schon von den genervten Lesern verprügelt worden?
Wie gesagt: Kathrin Passigs Satz ist da sehr wertvoll.
[…] geht es um den Zeitungssuizid. Und es ist sowas von wahr, was da […]
Sowohl die Westdeutsche Zeitung als auch die Rheinische Post, und das sage ich als altgediente rheinisch-bergische Frohnatur, die gerne eine Zeitung in der Hand hält, (und das nicht nur beim Kacken), sind beide verzichtbar, egal ob auf Papier oder oder Monitor, ob mit oder ohne Bezahlschranke. Kacke bleibt Kacke. (Ich zieh gern noch ab, damit es gut runterrutscht.)
Deutliche Worte, inhaltlich das, was ich schon vor längerer Zeit mal schrieb:
[…] Frage. In einer Kritik zur Westdeutschen Zeitung las ich: „es ist das schrillionste Mini-Guthaben, das man irgendwo im Internet hat und […]