Wir müssen spätestens nach dem Amoklauf von München und den Anschlägen in Würzburg und Ansbach über die Gründe sprechen, aus denen meist junge Männer derart radikal werden.
Ich meine nicht die Tatsache, dass Amokläufe und andere Gewalttaten weitaus überwiegend von Männern begangen werden. Bettina Weber von der Sonntags Zeitung meinte zwar gerade, dass eine Tat wie die von Anders Breivik von einer Frau nicht hätte begangen werden können, aber ich denke, dass es statistisch gesehen nur sehr, sehr, sehr viel unwahrscheinlicher ist.
Wir müssen weit ausholen. Die Taten aus Deutschland sind untypisch für das, was in den letzten Monaten die Welt erschütterte. Es waren in allen drei Fällen Einzeltäter ohne logistische Unterstützung durch eine Organisation, ohne Anwerber, die sie zur Tat aufforderten.
Sie hatten zunächst durch psychische Erkrankungen und/oder persönliche Erlebnisse einen Todeswunsch..
Und dann wählten sie den Erweiterten Suizid als Weg.
Sie waren in einer subjektiv verzweifelten Situation (auch, wenn das Außenstehende oft nicht verstehen) und suchten einen Weg, der sie ultimativ aus der Situation heraus bringt (durch den Tod) und zugleich nicht als Schwächling da stehen lässt und Rache an „denen” nimmt, die sie scheinbar in die Situation gebracht haben.
In solchen Situationen werden regelmäßig Narrative angewendet, über die Täter ihre Tat rechtfertigen.
So handeln Failienväter, die beim erweiterten Suizid Frau und Kinder töten, nach ihrer eigenen Überzeugung oft aus Fürsorgegründen, um die Familie nicht hilf und schutzlos zurück zu lassen
Auch der „Amoklauf“ ist ein solches Narrativ, und die Medien haben ihn erst dazu gemacht. Meist junge Männer auf der Schwelle zum Erwachsensein entschließen sich, aus Rache für die Ungerechtigkeiten, die sie empfinden, es „denen“ zu zeigen. Anders als in den Medien zuletzt zu lesen, sind Amokläufe nicht zwingend spontane Aktionen.
Schon das Vorbild der Schul-Amokläufe im Jahr 1999 war eben nicht spontan:
Schon mindestens ein Jahr vor dem 20. April 1999 begannen Harris und Klebold mit der minutiösen Planung eines Anschlags auf die Columbine High School. In Vorbereitung auf die Tat bauten sie Rohrbomben, beschafften Waffen und Munition und studierten gründlich die Abläufe und Gewohnheiten an der Schule.
Die Täter an der Columbine High School waren Außenseiter und Mobbingopfer:
Eric David Harris (* 9. April 1981; † 20. April 1999) und Dylan Bennet Klebold (* 11. September 1981; † 20. April 1999) waren gute und eher unauffällige Schüler, die an der Columbine High School einer Gruppe von Außenseitern, der sogenannten Trenchcoat-Mafia, nahestanden, jedoch nicht zu ihnen gehörten.[2] Deren Mitglieder trugen meist schwarze Kleidung und sahen sich, wie Harris und Klebold, häufig Schikanen sportlich aktiver Jungen, sogenannter Jocks, ausgesetzt.
[…]
Die Motive für ihre Tat sind bis heute unklar. Als einer der wichtigsten Gründe werden immer wieder Rachegelüste aufgrund von Mobbing in der Schule, mangelnder sozialer Akzeptanz und Ausgrenzung angeführt. Beide Schüler galten als unbeliebt und als Außenseiter, wenngleich sie jedoch keine typischen Mobbingopfer waren.[9] Es wird vermutet, dass sich dennoch durch Demütigungen und Isolierung bei Harris und Klebold im Laufe der Zeit ein Hass auf die gesamte Schule und die Gesellschaft entwickelte sowie das Bedürfnis, sich für ihnen widerfahrenes Unrecht zu rächen.
Es ging ihnen um Rache, Sie waren Lonesome Rider, Desperados, der Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit – jedenfalls für das, was sie dafür hielten.
Dieses aus Westernfilmen stammende Narrativ vom einsamen Helden, der als einziger Gerechtigkeit bringt, wird in der Literatur und in Filmen weiter gesponnen: Beatrix Kiddo mit ihrer “Kill Bill” oder auch Arya Stark aus Game of Thrones, die eine Liste mit Namen der Menschen hat, die sie töten (lassen) will.
Der Täter von München handelte aus Hass an Menschen, lud per Facebook sogar seine gewünschten Opfer zu McDonalds, wo die Tat begann, ein, und wollte ihnen im Rahmen seiner Möglichkeiten was ausgeben. Ein Lockruf, dem anscheinend niemand Folge leistete.
In Würzburg erscheint es, als ob der Täter seine Tat mit dem Krieg des extremistischen Islam gegen die Ungläubigen rechtfertigen wollte. Ein Krieg gegen Ungläubige nach jeweils wandelbarer Definition – mal gegen Nicht-Moslems, dann gegen Moslems, die nicht den IS unterstützen, wie die Anschläge des IS ausgerechnet in islamisch dominierten Ländern belegen.
Da der Islam den Märtyrertod als ehrenvoll ansieht und mit Versprechungen belohnt, ist auch hier ein Narrativ vorhanden, das einen erweiterten Suizid als gerechtfertigt und ehrenvoll erscheinen lassen kann – so lange man vorher möglichst viele Ungläubige getötet hat.
Der IS nutzt diese Tatsache und hat eine Art Open Source Terrorismus gebildet. Schon im Juni schrieb der Bayerische Rundfunk:
Strategen in Syrien und dem Irak haben das Terrorgebilde des IS zu einem „Franchise-System für Verbrechen und Massaker“ ausgebaut, wie es der französische Philosoph Pascal Bruckner analysiert. In den Tätern von Paris und Orlando haben sie Abnehmer der eigenen Ideologie gefunden.
Der Zug-Attentäter von Würzburg hat aus der Ideologie offenbar eine Instant-Radikalisierung abgeleitet und sich nach einer tragischen Nachricht aus der Heimat binnen weniger Tage auf die Tat vorbereitet. Während Amokläufer oft Manifeste oder andere Botschaften hinterlassen, in denen sie ihre Tat rechtfertigen, hat der Täter aus Würzburg mit dem Handy ein Bekennervideo aufgenommen und dem IS zukommen lassen.
Ein genialer Schachzug des IS: Sie sammeln über einschlägig bekannte Wege Bekennervideos ein und warten, bis die Taten stattfinden, um dann die Videos zu verbreiten und sich selber zum Anschlag zu bekennen.
Dennoch ist die Verzweiflungstat am Ende nur ein erweiterter Suizid mit dem Dschihad als Rechtfertigung.
Der Attentäter von Ansbach besaß auch Propagandamedien des IS (Videos, die “bei ihm gefunden” wurden, also vermutlich auf dem Smarphone), ob das vom IS verbreitete Bekennervideo nun aber echt ist oder eine Fälschung um sich zum Anschlag bekennen zu können ist derzeit noch offen. Tatsächlich war er offenkundig nicht allzu religiös, dafür aber nach zwei abgelehnten Asylanträgen und einer Abschiebeanordnung sehr wahrscheinlich in einer verzweifelten Situation.
Auch er beging höchstwahscheinlich einen erweiterten Suizid, nur eben auch nicht mit dem Narrativ des Amoklaufs, sondern mit dem des Märtyrers in einem Krieg gegen die Ungläubigen.
Es sind tragische und wegen der Auswirkungen auf Unbeteiligte doppelt und dreifach tragische Suizide und wir sollten – nein, wir müssen sie auch als solche behandeln.
Denn auch hier gilt der sogenannte Werther-Effekt:
Als Werther-Effekt wird in der Medienwirkungsforschung, Sozialpsychologie und Soziologie die Annahme bezeichnet, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen Suiziden, über die in den Medien ausführlich berichtet wurde, und einer Erhöhung der Suizidrate in der Bevölkerung besteht.
Diese Annahme hat sogar Eingang in den Pressecodex gefunden:
Seit 1997 gibt es zum Schutz des Privatlebens und der informationellen Selbstbestimmung der Betroffenen eine Richtlinie des Deutschen Presserats zur Berichterstattung über Suizidenten: „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände.“[11] Allerdings hat der Pressekodex keine bindende Wirkung.
Tatsächlich gab es immer wieder Situationen, in denen Suizide sich häuften. Die Korrelation ist belegt. Das gleiche gilt für den Amoklauf, der auch Nachahmer inspiriert. Und gerade in der aktuellen politischen Situation ist es dumm, anzunehmen, dass nicht auch islamistischer oder anderer Terror Nachahmer verleitet. Das gilt höchstwahrscheinlich auch für andere Narrative des erweiterten Suizids.
Geben wir den Selbstmördern, die zugleich zu Tätern werden, einfach nicht mehr die Bühne, die wir ihnen heute geben.
Berichten: Ja.
Ahnungslose Dauernachrichtenschleifen im Abendprogramm, Titelstories, Newsticker: Nein.
Ich weiß, es brennt uns allen unter den Fingern, informiert zu sein. Aber wir gefährden damit Menschenleben.
Also erstmal tausend Dank für diesen Text.
Zwei Sachen würde ich gerne anmerken.
Erstens: Wenn Verzweiflung von außen nicht nachvollzogen werden kann, muß das nicht unbedingt damit zusammenhängen, daß sie rein subjektiv ist.
Das ist auch wieder eine Frage der Narrative (wird mir gerade klar): Es gibt endlos viele endlos wiedergekäute und endlos weit verbreitete Narrative, die es erlauben, das Leiden anderer Menschen zu verdrängen und zu ignorieren. Ob es sich um Betroffene von Mobbing handelt, Betroffene von irgendeiner Form von Diskriminierung, von Gewalt, Krankheiten, Naturkatastrophen, whatever.
Wenn ich selbst es nicht verstehe, heißt das nicht unbedingt, daß es nicht verstehbar ist, und insbesondere heißt das nicht, daß der wichtigste Ansatzpunkt für Gegenmaßnahmen gegen Verzweiflung darin liegt, an die Menschen hinzuarbeiten, daß sie ihre Lage einfach nur anders wahrnehmen sollen. Schon gar nicht in der Breite.
Wie viele Menschen werden (als ein Beispiel) gemobbt, bis einer mal ***?
(Ich behelf mir mal mit drei Sternchen, ob das ne tolle Lösung ist, weiß ich jetzt auch nicht)
Denen zuliebe, die Mobbing erleben, oder andere traumatische Erfahrungen machen, ohne zu ***, muß man mal festhalten, daß Mobbing in jedem Fall scheiße ist, auch wenn die Betroffenen hinterher weder sich selbst noch andere umbringen. Und man muß das nicht nur feststellen, sondern auch danach handeln, und das betrifft nicht nur Mobbing, sondern alles Mögliche.
Das Zweite:
Ich sehe auch die Reaktion, auf bestimmte Vorkommnisse mit dem Twittern von Katzenbildern zu antworten, als ein Stören und Unterbrechen des Narrativs, und ich bedauere es, daß diese Methode in so ein weichgespültes Wohlfühl- und wir-haben-uns-alle-lieb-Gedöns umgedeutet wurde.
Es ist eine knallharte Anti-Terror-Maßnahme.
Ja, das mit den Katzenbildern ist eine Anti-Terror-Maßnahme, eine Dauerschleife dummen Unwissens mit immer denselben Fragen an Personen, die sie nicht beantworten können, ist aber die Realität. Da müssen alle mithelfen, diese Überdramatisierung zu beenden.
Zum Theme der subjektiv verzweifelten Situation: Wer in einer objektiv verzweifelten Situation ist, z.B. arbeitslos, Haus abgebrannt und eine schwere Erkrankung zur gleichen Zeit (geht es noch objektiver verzweifelt? Glaub ich nicht) dem werden wir helfen und wenn er durchdreht und Amok läuft können wir es erklären.
Mit „subjektiv verzweifelt“ meine ich die Situationen, in denen die meisten Menschen anders reagieren würden. Die Amokläufer der Columbine High School waren Mobbingopfer, aber nicht die, die die meisten Schläge abbekommen haben. MitschülerInnen, die objektiv viel schlimmer dran waren, waren weit davon entfernt, Amok zu laufen.
Subjektiv ist auch das Leid eines depressiven Menschen. Es erschließt sich mir, weil ich es kenne und mich damit befasst habe, aber die meisten Menschen denken „Der muss nur mal den Arsch hoch kriegen und dann geht es schon weiter“. Dass die Antriebsschwäche, auf die das „Arsch hochkriegen“ sich bezieht, manchmal sogar der einzige Grund ist, aus dem die Person noch lebt, weil sie auch für den Suizid, den sie sich wünscht, nicht „den Arsch hochkriegt“, wissen die wenigsten.
Die Frage „Wie viele Menschen werden (als ein Beispiel) gemobbt, bis einer mal ***?“ ist so nicht ganz korrekt.
Es gibt Menschen, die nie „***“ (also wie-auch-immer-austicken) würden, es gibt Menschen, bei denen das in der Persönlickeit angelegt ist und die irgendwann eine Abzweigung wählen, die zu einer Gewalttat führt. Können wir nicht vorhersehen. Ist auch gut so, eine Welt wie in Minority Report will ich ja auch nicht haben.