AfD, Le Pen, Trump: Sie alle sind Surfer auf den Wellen der Angst.
In der Natur (und damit der Evolution) ist das Überleben des Individuums eine Voraussetzung für den Fortlauf der Evolution und damit des Lebens. Wer besser an die aktuellen Lebensumstände angepasst ist als andere, hat mehr Chancen, selber zu überleben und sein Erbgut mit der besseren Anpassung weiterzugeben.
Im Tierreich (zu dem wir ja auch gehören) gibt es zwei wichtige wichtige Mechanismen, die das Überleben sichern: Die Fähigkeit, Angst zu empfinden, und das Immunsystem. Durch die Angst sind wir in der Lage, Gefahrensituationen zu erkennen, und durch das Immunsystem können unsere Körper Viren, Bakterien und mehrzellige Parasiten im Zaum halten.
Morbus Crohn ist eine Autoimmunerkrankung. Die T-Zellen des Immunsystems halten körpereigene Zellen für böse Angreifer und bekämpfen nun den eigenen Körper. Wie Autoimmunerkrankungen im Inneren des Immunsystem entstehen ist unklar. Es gibt verschiedene Theorien. Eine lautet:
Eine andere These ist die Hygiene-Hypothese, die sich mit den Wechselwirkungen zwischen Bakterien und unserem Immunsystem beschäftigt. Durch zu wenig Auseinandersetzung mit Bakterien in der Umwelt könnte die Entstehung von Immunerkrankungen gefördert werden. (Wikipedia)
Tatsächlich gibt es viele Fälle von Morbus Crohn, bei denen eine gezielte Infektion der PatientInnen mit dem Schweinebandwurm eine erhebliche Besserung der Symptome herbeiführt. Die Vermutung liegt nahe, dass unser heutiges Immunsystem die Waffen hat, um gegen dauernde Parasitose und Infektionen zu kämpfen, denen beispielsweise Wildtiere dauernd ausgesetzt sind, in unserer modernen und hygienischen Welt aber leer läuft und sich daher unter bestimmten Bedingungen auf Feinde stürzt, die gar keine sind.
Im konkreten Beispiel gibt man dem Immunsystem eine nicht zu schwierige Aufgabe, um es zu beschäftigen, und schützt damit den eigenen Körper.
Ähniich ist das mit der Angst. Man muss nicht erst von Angststörungen reden, es reicht schon die unspezifische Angst, die wir alle kennen.
Angst ist zunächst wichtig. Damals, als wie in Ur-Horden durch die Savannen stapften und den Homo Sapiens Sapiens verbreiteten, hat sie uns beispielsweise vor Tigern gerettet. Lieber zehnmal zu früh weglaufen, weil man etwas möglicherweise gestreiftes im Unterholz gesehen hat, als einmal zu wenig:
Da der Energieaufwand für eine Flucht gering ist (wenige hundert Kilokalorien), übersehene Bedrohungen aber folgenschwere Auswirkungen nach sich ziehen können, ist die „Alarmanlage“ Angst von der Natur sehr empfindlich eingestellt, was bisweilen in Fehlalarmen resultiert. (Wikipedia)
Wer sich mit Schwarm- oder Herdentieren beschäftigt hat, kennt den Effekt, den ich gerne als Schwarmblödheit bezeichnen würde, aber eigentlich nur eine Art Kollektivierung der Angst ist. Während beispielsweise eine einzelne Taube zutraulich auf einen fütternden Menschen zu läuft, sich mitunter fast berühren lässt, reicht es, dass ein einziges Tier des Schwarmes plötzlich und überraschend auffliegt, um alle anderen Schwarmmitglieder auch fliehen zu lassen.
Auch hier ist die Reaktion für das Überleben wichtig: Lieber zehnmal zu oft auffliegen, weil ein Schwarmmitglied eine Gefahr wahrgenommen zu haben glaubt, als einmal gefressen zu werden. Auch, wenn man nicht die blasseste Ahnung hat, warum man flieht.
Das Auftreten von pathologischen Angststörungen lässt sich teilweise genau damit begründen: Wir haben die Angstfähigkeit, um zwar nicht heldenhaft, aber immerhin lebend wieder aus einem Dschungel heraus zu kommen, leben aber in einer Welt, in der die Risiken immer weiter minimiert werden.
Während in meiner Kindheit Schülerlotsen schon eine tolle Einrichtung zur Absicherung der Schulwege waren, tragen Kinder heute reflektierende Warnwesten oder werden gar mit dem Auto bis vor die Schule gefahren. Der Straßenverkehr wird durch ABS, Airbags und Fahrassistenten immer sicherer, die Angst vor Unfällen jedoch sinkt zumindest nicht im annähernd gleichen Maß.
Die Welt wird an sich immer sicherer, seit den 1970ern ist die Wahrscheinlichkeit, in Europa Terroropfer zu werden, um rund zwei Dezimalstellen gesunken. Auch im Jahr 2015 wurden in den USA mehr Menschen von Säuglingen getötet, die durch nicht ausreichend gesicherte Waffenschränke mit geladenen Schusswaffen spielten, als durch Islamisten.
Trotzdem ist die Angst da und wächst.
Trotzdem?
Vielleicht deshalb?
Angst, das komische Ding, das uns unbehaglich macht, Fluchtreflexe aufruft und zur Schreckhaftigkeit führt, ist nicht spezifisch. Angst ist frei und macht uns aufnahmefähig für Gefahren. Haben wir eine Gefahr erkannt – zum Beispiel das gestreifte Tigerfell zwischen zwei Bäumen – wird aus der Angst die spezifische Furcht.
Zumindest beim Individuum.
Beim Schwarm oder Rudel ist das anders. Die Angst der Mitglieder, die flüchten, weil das erste Mitglied damit begann, wurde nicht durch eine konkrete Furcht abgelöst. Sie bleibt unspezifisch. Während man sich durch Flucht vor dem Tiger retten und die konkrete Furcht beseitigen oder vielleicht erleichtert erkennen kann, dass man sich geirrt hat und da gar keine Gefahr war, bleibt die Angst bestehen.
Das haben auch Demagogen bei uns Menschen schon immer so genutzt.
Auch wir Menschen haben Angst. Unspezifisch. Einfach so, damit wir schnell flüchten können, wenn es einen Grund zur konkreten Furcht gibt.
Besonders leicht ist es, Angst für die Aufspaltung der Menschen in ein „Wir“ gegen ein „Die“ zu nutzen. Wenn wir Angst haben und jemand den Schwarm warnt, prüfen wir die Warnung nicht. Siehe die Propaganda unter Hitler: Es wurden die absurdesten und sich schon wegen ihrer immanenten Widersprüche widerlegbarsten Märchen über Juden, die seit dem Mittelalter kursierten, als Wahrheit verkauft. Von der Verschwörung zwecks Übernahme der Weltherrschaft bis hin zum Ritualmord, vorwiegend an Kindern.
Demagogen projizieren die unspezifische, einfach vorhandene Angst auf Personengruppen, um die so entstehende konkrete (aber objektiv nicht begründbare) Furcht als Machtinstrument zu missbrauchen.
In den USA waren es die Kommunisten, die McCarthy als Grund für Grundrechtseinschränkungen nutzte, seit dem Anschlag auf das WTC sind es Moslems. Ängstliche Menschen wünschen sich authoritäre Führung:
I’m sad about Trump,but it proves Philip Tetlock right again
Parallels drawn on PBS with Berlusconi.Anxious folk like authoritarian figures
— John Cleese (@JohnCleese) 9. November 2016
Auch bei uns wird Angst missbraucht. Durch PEGIDA und Co, wo Lutz Bachmann mit widerlegbaren und längst widerlegten Falschmeldungen Furcht vor Moslems schürte. Aber die Demagogen bei uns sind noch schwammig. Sie sprechen von Islamisten und meinen alle Moslems. Sie sprechen von Flüchtlingen und meinen alle Zuwanderer. Sie sprechen von Linksextremismus und meinen inzwischen sogar die CDU.
Das Schlagwort des Postfaktischen geht als Erklärung für die Erfolge der Verführer um, aber das Ignorieren der objektiven Fakten ist nur ein Symptom. Das Instrument, auf dem die Hetzer und Demagogen spielen, ist die Angst der Gruppe.
Wir können dagegen halten. Indem wir die Angst bei den Individuen ausräumen. Bei denen, deren Angst geschürt wird. Nicht bei denen, die vorne stehen und reden.
In meinem Bekanntenkreis sind in mehreren Fällen Ängste und Vorurteile gegen Flüchtlinge in dem Moment weggebröckelt, als aus Neugier oder Zufall persönliche Kontakte zu Flüchtlingen oder Helfern entstanden.
Die herbeigeredete Furcht war weg, als sie erkannten, dass das, was man ihnen als getigertes Fell hinter dem Baum da hinten einreden wollte, nur ein Schattenspiel ist.
[Update nach Diskussionen auf Facebook]
Wir müssen etwas gemeinsames finden, zu dem sich die von den Populisten manipulierten Menschen wieder zugehörig fühlen können, das sie mit uns verbindet und von den Hetzern trennt. Eine emotionale Basis, die auch einen Faktencheck besteht.
Leider ist Angst eine stärkere Emotion als die zum Beispiel von den US-Demokraten genutzte Zuversicht, daher werden wir, wie Mathias Richel es schon im September feststellte, um einen linken oder linksliberalen Populismus, und letztlich ebenfalls um die Kanalisation der Angstfähigkeit, nicht herum kommen.
tl;dr: Demagogen schüren die Angstfähigkeit der Massen und instrumentalisieren sie. Bekämpfen können wir sie nur durch Überzeugung der Individuen.