Manchmal ist ein Erlebnis im persönlichen Bereich der Auslöser, seine Meinung über die Welt zu überdenken. Manchmal sind es traurige Erlebnisse, die quasi die Augen öffnen. Und dann fragt man sich: Haben wir eigentlich noch alle Tassen im Schrank?
Das konkrete Ereignis ist der Tod des Katers Nils (eigentlich Herr Nilsson), der mir auch mal beim Testen einer Überwachungskamera zur Hand gegangen ist. Der Kleine war mal Streuner, stand vor rund 14 Jahren plötzlich im Garten und wollte einziehen. Die Tierärzte schätzten ihn damals auf rund 3 Jahre, inzwischen wird er also 17 gewesen sein. Das ist zwar noch kein salomonisches Alter, aber schon ganz ordentlich. Und er war noch gesund bis auf einen leicht erhöhten Schilddrüsenwert, durch den er unter dem langen Norwegerfell tatsächlich sehr schlank war und trotz seiner Größe nur 5 Kilo wog.
Nach unserem Umzug 2016 hatte er sich in Windeseile ein Revier im neuen Gartenland abgesteckt. Als er die Hundedame und mich neulich um 6 Uhr früh beim Gassigehen begleitet hat, war ich ziemlich erstaunt, als ich erfuhr, welche anderen Hundehalter ihn aus ihren Gärten kannten und wie groß sein täglicher Bewegungsraum war.
Am Montag lag er nun bewusstlos und mit Krämpfen auf unserer Garage. Der erste Gedanke war natürlich, dass er einen Hitzschlag hatte, aber ein nasses Handtuch zum Kühlen hatte nur den Effekt, dass er anfing, zu stinken, als ob er in Fäkalien geraten sei. Beim Tierarzt wurde neben den Krämpfen eine Arhythmie des Herzens festgestellt, die Untersuchung ergab keine Hinweise auf einen Unfall (mit z.B. einer Hirnblutung und einem Schocksyndrom) und andere Erkrankungen konnten immer nur einzelne Symptome erklären, nicht aber das Gesamtbild.
Die Tierärztin folgerte daher, dass es sich um eine Vergiftung handeln müsse. Insektizide, Pestizide, oder auch Gülle.
Gülle war sogar der Hauptverdächtige, da der Kater – wie gesagt – bei nassem Fell stank. Wäre er bei einem Kampf oder Missgeschick in Gülle gefallen, hätte diese sich im Fell festgesetzt und wäre bei den aktuellen Temperaturen schnell getrocknet. Sobald er sich putzt hätte er die Gülle – und damit ihre Giftstoffe – aufgenommen.
Das war plausibel. Zuerst besserten sich die Symptome nach einer Versorgung in einer Sauerstoffbox und mit Infusionen. Infusionen führen zu einer Verdünnung der Giftstoffe und zu stärkerem Arbeiten der Nieren, die die Giftstoffe aus dem Körper leiten. Leider hatten auch die verdünnten Gifte dann über Nacht schneller Schäden angerichtet, als die Nieren sie ausleiten konnten, und er musste am Morgen erlöst werden, da keine Besserung in Sicht war. Sogar die Pupillenreaktion fehlte bereits.
Das war der Anlass, aus dem ich mich näher mit Gülle befasst habe.
Gülle ist das, was mehrmals im Jahr stinkt, wenn Landwirte es auf brach liegenden Feldern ausbringen.
Gülle gilt als ekelhaft. In Dürrenmatts Tragikkomödie „Der Besuch der alten Dame“ reist die Millionärin Claire Zachanassian in den Ort ihrer Kindheit, eine verarmte Kleinstadt, deren Name „Güllen“ bewusst Assoziationen wie „schmuztig, stinkend, abstoßend“ wecken soll.
Dabei ist das nur die halbe Wahrheit, wenn überhaupt.
Gülle entsteht insbesondere in der Intensivtierhaltung. Rinder und Schweine werden auf Spaltenböden gehalten, durch die ihre Exkremente abgeleitet und gesammelt werden. Im Sammler entsteht nun aus den Exkrementen ein hochgiftiges Gemisch.
Zum Beispiel werden Gifte meist über die Nieren ausgeschieden und sind daher im Urin in einer höheren Konzentration enthalten als sonst im Körpergewebe. Gifte, das sind schon Medikamente, die verabreicht werden, aber in der Intensivhaltung nehmen Tiere auch Insektizide auf, die in den Ställen ausgebracht werden. All das landet in der Gülle. Dazu kommen Bakterien, die von den organischen Substanzen leben und selber wieder Gifte erzeugen.
Da ist beispielsweise das Bakterium Clostridium botulinum, das in der Gülle lebt. Sein bekanntestes Stoffwechselprodukt ist das Botulinumtoxin, das halt nicht nur in einer medizinischen Form der Kosmetik zum Vermindern von Falten, sondern auch durchaus sinnvoll therapeutisch eingesetzt wird. Entdeckt wurde es aber nicht wegen seiner therapeutischen Wirkung, sondern weil eine Vergiftung mit dem auch in faulenden Konserven entstehenden Gift bis heute in vielen Fällen tödlich verläuft.
Die LD50-Dosis des Botulinumtoxins liegt bei 0,03 Nanogramm pro Kilogramm Körpergewicht. „LD50“ bedeutet, dass 50% der Versuchstiere durch diese Dosis starben.
Nimmt man – der einfachen Rechnung halber – 100kg als Körpergewicht eines Menschen an, dann würden 3 Nanogramm, also 0,000000003 Gramm, einen Menschen mit 50% Wahrscheinlichkeit töten, mit fast absoluter Sicherheit aber lange auf dem Krankenbett liegen und noch länger an Folgeschäden leiden lassen.
3 Gramm des Toxins würden reichen, um einer Milliarde Menschen die LD50-Dosis zu verabreichen.
Das Botulinumtoxin kann aus militärischer Sicht auch als Biowaffe eingesetzt werden. Da Botulinumtoxin an der Luft schnell zu unschädlichen Stoffen zerfällt, könnte ein mit Botulinumtoxin vergiftetes Gebiet schon nach ein bis zwei Tagen wieder gefahrlos betreten werden. Aufgrund der hohen Toxizität zählt Botulinumtoxin zu den gefährlichsten Biowaffen.[41] Wegen dieses Missbrauchspotentials müssen Pharmafirmen auch stets das Kriegswaffenkontrollgesetz berücksichtigen.[42] Mit der Biowaffenkonvention besteht ein internationaler völkerrechtlicher Vertrag, Botulinumtoxin nicht in bewaffneten Konflikten einzusetzen. Als mögliche Anwender kommen jedoch terroristische Vereinigungen in Frage.[16] Die neureligiöse, seit 1995 durch die Anschläge in Tokio weltweit bekannte Gruppierung Omu Shinrikyo hatte die Verwendung von Botulinumtoxin für ihre Anschläge erwogen, kam aber wegen des zu hohen Aufwands wieder davon ab und setzte letztlich Sarin ein.[43] Da in Industrieländern Lebensmittel zentral und massenhaft hergestellt werden, kann neben der Dispersion des Toxins als Aerosol auch die effektivere vorsätzliche Kontamination von Lebensmitteln erfolgen und zum Kollaps der nationalen Notfallmedizin führen. Selbst ein Angriff im kleinen Rahmen könnte Panik auslösen und signifikante Auswirkungen auf die Volkswirtschaft haben.[16]
Quelle: Die Chemie-Schule
Und das schütten wir auf die Felder.
Und es ist nicht der einzige Giftstoff, nur der bekannteste. Und man muss nicht einmal mit der Gülle in Kontakt kommen oder sie verschlucken, um Gifte aufzunehmen. Es gibt auch gasförmige Gifte, die von Gülle ausgehen.
CO2, Kohlendioxid, ist da noch das harmloseste. Es ist schwerer als Luft, sinkt also zunächst nach unten, geht dann aber in der Atemluft auf, in der es sowieso vorkommt. Allerdings bildet es über der Gülle einen „See“ aus Gas, der zunächst in tiefer gelegene Gräben abfließt. Aber wer nicht in Bodennähe atmet ist nicht in Gefahr.
Außer halt Kindern, die in der Nähe spielen. Hunden, Katzen. Kleineren Wildtieren.
Recht unkritisch ist auch Ammoiak (NH3). Dieses Gas führt zu Reizungen der Atemwege und stinkt selber schon so schlimm, dass man sich kaum in seinem Einflussbereich aufhalten möchte. Auch keine spielenden Kinder.
Und Methan (CH4) ist nur unmittelbar gefährlich, wenn es sich in einem geschlossenen Raum sammelt und dort entzündet. Ansosten ist es so leicht, dass es schnell in den oberen Schichten der Atmosphäre landet und dort seinen Beitrag zum Treibhauseffekt leistet.
Brutal gefährlich ist hingegen Schwefelwasserstoff (H2S). Der stinkt zwar wohl auch ordentlich, aber dieses Gas betäubt den Geruchssinn so schnell, dass es faktisch kaum zu riechen ist. Bei ausreichender Konzentration reicht ein einziger Atemzug, um eine tödliche Dosis aufzunehmen. Da es in Wasser löslich ist, kann es in einem Tank voll Gülle unbemerkt schlummern, bis die Gülle in Bewegung kommt – beispielsweise beim Ausbringen auf die Felder.
Da das Gas schwerer ist als Luft, wird es sich in den nahe liegenden Straßen- und Entwässerungsgräben sammeln, wo auch das Kohlendioxid schon liegt.
Und sowas schütten wir auf die Felder!
Einen Stoff, der mehrere flüssige und gasförmig entweichende Gifte enthält, neben all den Antibiotikaresten und Abbauprodukten anderer Medikamente, die in der Tierzucht zugelassen sind.
Warum macht man das?
Nun, insbesondere die industrielle Tierhaltung erzeugt Unmengen an Fäkalien, also Gülle. Irgendwohin muss man das bringen, und als man sich noch nicht so bewusst war wie heute, was in Gülle enthalten ist, hat man begonnen, es auf brach liegende Felder zu schütten. Wenn nach einiger Zeit die Giftstoffe abgebaut sind, wird Gülle tatsächlich zu einem Dünger, der Stickstoff im Boden bindet. Tatsächlich bezeichnet die Landwirtschaftslobby Gülle bis heute sogar als wichtigen Dünger.
Angesichts der Giftstoffe ist eine solche Ausbringung aber nach heutigen Maßstäben nicht hinnehmbar. Unser Risikobewusstsein wächst. In Presseberichten der Polizei steht bei jedem Unfall, bei dem Radfahrer zu Schaden kommen, ob diese einen Helm trugen oder nicht. Alle paar Wochen wird irgendwo sogar über eine Helmpflicht für Radfahrer diskutiert. Gurte und Airbags sind in Autos längst Pflicht, automatische Notrufsysteme der aktuelle Schritt zum Abbau von Gefahren im Straßenverkehr. À propos Straßenverkehr: 9 Millionen Liter Gülle sind alleine 2015 durch Unfälle beim Transport unkontrolliert in die Umwelt gelangt.
Gerade werden Abbiegeassistenten für Lkw in fast jeder Zeitung erwähnt, durch die Unfälle – auch mit Radfahrern – verhindert werden können. Sollte man sie zur Pflicht machen?
Natürlich!
Sollte das Ausbringen von Gülle bei diesem Risikobewusstsein weiterhin erlaubt sein?
Natürlich nicht!
Und es gibt noch mehr Gründe dagegen.
Gerade ging das „Gülle-Urteil“ durch die Presse. Unser Grundwasser ist – auch wegen des Ausbringens von Gülle – übermäßig mit Nitrat belastet. Also genau den Stickstoffverbindungen, die den Äckern nutzen. Dazu kommt ein erklecklicher Anteil an Medikamentenresten, die sich in Gülle finden und die auf den Äckern und im Grundwasser landen. Ganz zu schweigen davon, dass die an Tiere verfütterten Antibiotika nicht nur in den Ställen zu multiresistenten Keimen führen, sondern diese über die Gülle in die freie Natur entlassen werden.
Und wir schütten das Zeug weiter unverändert auf die Felder und riskieren neben der Geruchsbelästigung, dass unter Umständen tödliche Fallen für Menschen und Tiere entstehen. Oder wem ist bewusst, dass man das Handy im Straßengraben neben einem frisch gegüllten Feld besser liegen lassen sollte, um nicht am Ende Gesundheitsschäden durch Schwefelwasserstoff zu erleiden?
Tatsächlich gibt es Möglichkeiten, Gülle zu entsorgen. Das Methangas wird durch Bakterien so lange erzeugt, wie die Bestandteile ausreichend zur Verfügung stehen, und ist brennbar. Da es aus Exkrementen gewonnen wurde, die einmal aus Futterpflanzen entstanden sind, sogar CO2-neutral. Biogas nennt man das. Die Gülle wird dabei mit Grünmaterial vermischt und gezielt weiter vergoren. Um die Abgase möglichst schwefelfrei zu halten, werden zum Beispiel Schwefel abbauende Bakterien eingesetzt (die u.a. den Schwefelwasserstoff zersetzen). Auch Giftstoffe könnten dabei gezielt durch Mikroorganismen oder chemische Reaktionen abgebaut werden, sofern das nicht sowieso geschieht.
Und die Gülle ist danach viel näher an dem, als was man sie heute schon verkauft: Düngemittel.
Tatsächlich ist man in Südafrika schon weiter als wir:
In Südafrika, wo die Regierung zur Zeit mit einem Ausbau der Kernenergie liebäugelt, erregt die Inbetriebnahme der größten Biomasse-Anlage des ganzen Kontinents gerade enormes Aufsehen. Ausgerechnet der deutsche Hightech-Automobilbauer BMW macht sich mit einer 4,5 Megawatt starken Biogas-Anlage für sein Werk in Rosslyn (bei Pretoria) unabhängig von der landesweiten Energieversorgung. Die Gülle von rund 35 000 Rindern sei dafür nötig, rechnet Zymlas Kollege Clemens Findeisen vor. „Das Potenzial für derartige Anlagen ist groß“, sagt er auch mit Blick auf mögliche Hausmüll-Vergärung.
Man hätte sogar eine Win-Win-Situation: Weniger Giftstoffe in unserem Umfeld, weniger CO2-Ausstoß.
Warum nicht auch bei uns?
Gibt es auch bei uns: Wenn du über Land fährst und an einem Bauernhof ein Hochsilo siehst mit einer (schwarzen) „Mütze“, dann ist das eine Biogasanlage. Hier ist so eine Anlage zu sehen: https://goo.gl/maps/v9iViR1sX6U2
Ich weiß, aber es sind noch zu wenige. Vor über 15 Jahren haben wir das auf Landesebene bei den Grünen schon diskutiert. Es ist wieder so eine Sache, wo es nicht nur Schwarz und Weiß gibt.
Auf der einen Seite gibt man der industriellen Massentierhaltung so die Möglichkeit, ein Ökosiegel am Betrieb anzubringen (Ökostrom und -wärme in einem Blockheizkraftwerk aus Biogas erzeugt). Am Ende wird dann das Argument für mehrstöckige Schweineställe sein, dass ohne diese Mastbetriebe bei uns das Licht ausgeht.
Andererseits ist Gülle ein Stoff, der eigentlich als Sondermüll entsorgt werden müsste. Wird er auch, aber über Äcker. Tierzüchter müssen Ausbringungsflächen auf eigenem Land oder Vereinbarungen mit anderen Landwirten nachweisen, aus den Niederlanden wird sogar Gülle zu uns gefahren.
Das hat sich zwar über mehrere Generationen entwickelt, aber allein deshalb ist es nicht richtig.