Oder: Warum das Freiheitsargument gegen ein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen rasender Unsinn ist.

17. Juni 1988, Landstraße L115 kurz vor dem Beginn der A1 bei Blankenheim. Ich war Zeitsoldat in Daun und fuhr dort gegen 17 Uhr, von Süden kommend, zur Autobahn. Eine doofe Kurve, wegen eines leichten Hügels und des Waldes nicht gut einsehbar.

Es war Freitag, die Woche Schichtdienst war zu Ende und ich war auf dem Heimweg.

„Noch einmal 70 bis zur Autobahn“ dachte ich und …

…erinnere mich erst wieder ab Sonntag. Ich liege mit Schmerzmitteln zugedröhnt auf der Intensivstation, ein Pfleger zieht den Katheder. Ich dämmere wieder weg und wache später – schon am Montag? – auf einer normalen Station wieder auf.

Meine Eltern, mein Bruder und meine Freundin stehen am Krankenhausbett. Ich kann mich kaum bewegen, die Arme etwas, Beine gar nicht.

Im Spiegel sehe ich aus, als ob ich mich mit Mike Tyson geprügelt hätte – Brillenhaematom nennt man das. Ursache war eine massive Gehirnerschütterung mit Hirndrucksymptomatik inclusive Bewusstlosigkeit und Krämpfen. Dazu Prellungen am ganzen Körper.

Die Klinik in Hillesheim in der Eifel hatte mich deshalb in die Uniklinik in Köln fliegen lassen, da sie die Schädelöffnung zur Minderung des Drucks nicht selber vornehmen wollte.

In Köln angekommen waren die kritischen Symptome glücklicherweise schon abgeklungen, drei Tage Koma standen aber dennoch im Arztbericht.

Was war passiert?

Eine junge Frau kam mit einem Opel Kadett von der Autobahn. In der Kurve verlor sie die Kontrolle über ihr Fahrzeug und geriet auf meine Fahrbahnhälfte.

Unsere Fahrzeuge kollidierten ungebremst.

Im Krankenhaus erfuhr ich, was für Verletzungen ich erlitten hatte.

Neben dem Brillenhaematom hatte ich das linke Schienbein gebrochen, ebenso den rechten Innenknöchel. Das rechte Knie war anscheinend in den Autoschlüssel geraten und sah von außen wie eine Roulade aus – grob und provisorisch zusammengenäht.

Vermutlich, sagte mir der Stationsarzt in der Kölner Uniklinik, seien Bänder im Knie beschädigt. Man warte auf einen OP-Termin, an dem das Schienbein zusammengeschraubt würde, dabei würde man dann auch einen Blick ins Knie werfen.

Meine Eltern hatten inzwischen die Berichte der Polizei eingesehen. Ein Lkw-Fahrer, der hinter meiner Unfallgegnerin fuhr, bescheinigte ihr eine höhere Geschwindigeit als die in der Kurve erlaubten 70 km/h. Sie sei in der (für sie) Linkskurve zu weit rechts gefahren, mit dem Reifen auf die Böschung geraten, und habe ihren Kadett zum Ausgleichen zu weit nach links gezogen.

Ich hätte noch reagiert und mein Fahrzeug ebenfalls nach links gezogen, wodurch ich verhindert hätte, dass wir an den Fahrerseiten zusammenstießen. So trafen wir uns auf den Beifahrerseiten.

Ihr Fahrzeug überschlug sich und landete auf meinem Wagen, der schleudern aus der Kurve getragen wurde.

Die Beifahrerseite meines Wagens war komplett platt gedrückt. Ein Beifahrer hätte den Unfall nicht überlebt.

Die Kurve war in der Kaserne bekannt. Ungefähr ein halbes Jahr vor dem Unfall waren die Bäume in der Außenkurve gefällt worden, was einem Leutnant meiner Kompanie kurz darauf das Leben gerettet hat. Auch er kam von der Autobahn, überschätzte sich in der Kurve oder war unachtsam, und landete – wie ich – auf relativ freiem Feld.

Andere Kameraden hatten ihre Autos zuvor in die Bäume gesetzt und erlitten schwere Verletzungen einschließlich eines Todesfalles.

Im Krankenhaus waren meine Beine in Schaumgummiformen fixiert, die mich zwangen, auf dem Rücken zu liegen. Die Toilette war ein Loch im Krankenhausbett. Ich bekam Infusionen mit Schmerzmitteln.

Inzwischen hatte ich über meine Eltern eine Anwältin eingeschaltet. Auch meine Unfallgegnerin ließ sich vertreten, ihr Anwalt alle Register.

Er fragte bei der Polizei, ob bei mir nach dem Unfall eine Blutalkoholuntersuchung vorgenommen worden sei – wenn nicht, forderte er vorsorglich eine Begründung, warum.

Es gab einen Polizeibericht und Zeugenaussagen, nach denen seine Mandantin einen zu schnell war und einen Fahrfehler gemacht hatte, aber bei mir wird gefragt, ob ich um 17 Uhr schon Alkohol getrunken hätte.

Der OP-Termin stand fest. Ab dem Vorabend bekam ich kein Essen mehr, wurde dann am Vormittag mitsamt meinem Krankenhausbett zum Operationssaal geschoben, nachdem ich zu den Schmerzmitteln noch Beruhigungsmittel bekommen hatte.

Nach der OP kam ich im Krankenhauszimmer wieder zu mir, zugedröhnt von noch stärkeren Schmerzmitteln und Nachwirkungen der Narkose.

Auf der Visite lernte ich dann den operierenden Arzt kennen – ein Professor, der meine OP gleich als Lehrvorführung genutzt hat und nun einen Schwarm an StudentInnen und Pflegeschülerinnen dabei hatte. Die waren von der Arbeit des Professors begeistert.

Es schien also alles sehr gut gelaufen zu sein, das Schienbein war wieder zusammengesetzt und mit einem Stahlstreifen fixiert, der würde in einem Jahr wieder rausgenommen. Das zerfetzt scheinende Knie war nur oberflächlich verletzt, der Autoschlüssel hatte das Gelenk und die Bänder verschont.

Eine oder zwei Wochen später kam ich dann in das St. Vinzenz Krankenhaus im heimatlichen Düsseldorf. Normalerweise wäre ich schon entlassen worden, aber mit zwei gebrochenen Beinen – eines operiert, eines im Gips – die beide nicht belastet werden dürfen, ist man auf die Infrastruktur einer Klinik angewiesen.

Dort erreichte mich ein Päckchen meiner Unfallgegnerin. Die Frage, wer Schuld ist, war wohl inzwischen geklärt. So bekam ich eine Karte mit Genesungswünschen und ein Buch. Auf der Karte wünschte sie mir gute Besserung, ihre Prellungen seien schon besser und täten kaum noch weh.

Wie schön für sie.

Bei dem Buch handelte es sich um Band zwei von „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“ von Jaroslav Hašek – ja, ich war Soldat, ja, das hatte igendwie Bezug zu mir. Aber warum Band 2? Immerhin passte das zum Text auf der Genesungskarte: Möglicherweise gut gemeint, aber eben nicht gut gemacht.

Denn es war so: Knapp dreieinhalb Monate nach dem Unfall endete meine Dienstzeit bei der Bundeswehr. Ich hatte den gesamten Jahresurlaub auf den Oktober gelegt, da ich ab dem 1.9.1988 etwas beginnen wollte, was heute als „Duales Studium“ bezeichnet wird.

Dazu hatte ich mich beworben, die Zusage schon fast vor einem Jahr erhalten, und nun hing alles am seidenen Faden. Wenn ich am 1.9. nicht in der Lage war, die alles andere als behindertengerechte Hochschule zu besuchen, wäre ich draußen gewesen.

Hätte ich alternativ ein Jahr später anfangen können? Wahrscheinlich nicht, da die Plätze für 1989 schon alle vergeben waren.

Warum das alles? Weil, wie inzwischen aus Zeugenaussagen bekannt war, eine junge Frau zu schnell in eine Kurve gefahren ist und dabei versucht hat, etwas, das wohl vor den Beifahrersitz gefallen war, aufzuheben. Musikcassette? Zigarette? Das erfuhr ich nie.

Glücklicherweise konnte ich nach dem Entfernen des Gipsverbandes am Knöchel relativ schnell auf Krücken laufen und es gab keine Verzögerung. Hingegen wurde es mit der gegnerischen Versicherung noch weniger lustig.

In Düsseldorf wurde noch eine Kreuzbandverlängerung an meinem linken Knie diagnostiziert, die mit dem Unfall zusammenhängen musste. Da ein knöcherner Befund am rechten Knie schon als unfallunabhängig eingestuft wurde, bestand die Versicherung darauf dass sich das auch auf das verlängerte Band im linken Knie bezöge. Links, rechts, das verwechselt man ja so schnell.

Heute, nach über 30 Jahren, sind die Wunden am rechten Knie verheilt und ich kann mich seit rund 10 Jahren wieder hinknien. Vorher hatte ich genau in dem Hautbereich, der auf dem Boden landet, kein Gefühl, weil die Nerven alle durchtrennt waren. Ich hätte ich auf eine Reiszwecke knien können und es erst bemerkt, wenn es blutet.

Arthrose in den Gelenken habe ich auch keine, ich muss wegen eines „Knickfußes“ nur öfter Einlagen tragen, um Schmerzen vorzubeugen. Unter anderem wegen des Studienbeginns musste ich ja das rechte Bein früh wieder voll belasten, was zu dieser Fehlstellung geführt hat.

Warum ich das alles schreibe?

Ich war Opfer des Fahrfehlers eines anderen. Wie die meisten Unfallopfer.

1973 war die Ölkrise und es gab ein Tempolimit auf Autobahnen auf 100 km/h. „Freie Fahrt für Freie Bürger“ forderte der ADAC, forderte die BILD. Damals wurde das Tempolimit wieder aufgehoben.

Heute wird wieder eines gefordert.

Ich bin heute Berufspendler und fahre täglich auf der Autobahn. Ich versuche, im Verkehr mitzuschwimmen, schneller als 130 km/h komme ich selten voran. Wenn ich mal bis nach 20 Uhr im Büro sitze beispielsweise.

Den größten Stress machen unentspannte Menschen, die Kolonnenspringen praktizieren, die auf einer mittelvollen linken Spur (wenn ich z.B. 20m hinter dem nächsten Fahrzeug fahre und so viel Abstand halte, dass ich bequem bremsen kann wenn es nötig ist) mit Lichthupe und gesetztem Blinker erwarten, dass man den eigenen Wagen mal kurz hoch nimmt, damit sie vorbei kommen.

Ab 130 sinken die Unfälle drastisch“ titelte der SPIEGEL gerade. Das ist nicht alles.

Bei einem Limit von 130 km/h fährt man auch viel entspannter. Der Druck durch die Schnellfahrer ist weg. Wenn ich in den Niederlanden, wo ein solches Limit gilt, fahre, dann ist das entspannter als daheim. Genauso in Frankreich. In Belgien nur, solange man nicht auf ein Autobahnklo muss, aber das ist unabhängig vom Tempo.

Es gibt bei 130 keinen Wettbewerb zwischen denen, die eine angenehme Reisegeschwindigkeit fahren und anderen, die unbedingt ihre Freiheit ausleben wollen, 150, 180 oder 230 zu fahren, was zu Spurwechseln und Bremsmanövern und anderen riskanten Manövern führt und am Ende einer Fahrzeugkolonne, die nur noch 90 fährt.

Ungefähr einmal im Jahr zeige ich als Berufspendler jemanden an, der nicht nur drängelt, von der Autobahnauffahrt direkt über drei befahrene Fahrstreifen nach Links zieht oder anderen Scheiss macht, sondern der auch noch aggressiv reagiert, wenn man ihn anhupt, weil er einen durch sein Manöver zum Bremsen zwingt.

Die Situationen an sich erlebe ich ungefähr jeden zweiten Tag. Situationen, die die Unfallgefahr erhöhen. Nicht nur für die Schnellfahrer, nein, für alle, auch die, die mit 100 oder 130 nur heil nach Hause kommen wollen.

„Aber die Toten auf der Autobahn sind doch nur ein Bruchteil der Verkehrstoten! Auf Landstraßen sterben viel mehr Menschen! Deshalb ist es Unsinn, ein Tempolimit auf Autobahnen einzuführen!“

So ein Argument, mit Verlaub, lasse ich nur von Menschen gelten, die selber schonmal aus einem Auto rausgeschnitten wurden und im Krankenhaus lagen – oder Angehörige bei einem Unfall verloren haben. Bei allen anderen sind das scheinheilige statistische Rechtfertigungen.

Da möchte ich dann kontern: Wir haben in Deutschland ein Fernstraßennetz von 231.000 Kilometern, davon sind 5,6%, nämlich 13.009 Kilometer, Autobahnen. 58% aller Todesopfer bei Autounfällen werden auf den Landstraßen verzeichnet, 12% aller Todesopfer auf Autobahnen (der Rest innerorts). Das heißt, dass auf 5,6% der Fernstraßen 20,7% der auf Fernstraßen zu verzeichnenden Todesopfer fallen. Die Frage, ob die Autobahn wirklich so viel sicherer als die Landstraße ist, ist eben alles andere als klar.

Außerdem: Auf Landstraßen gibt es schon ein Tempolimit. Auf Autobahnen noch nicht. Wenn wir eines auf der Autobahn durchgesetzt haben, wird der nächste Schritt sein, über das Tempo auf den Landstraßen zu reden und den dortigen Güterfernverkehr dahin zu befördern, wo er hin gehört: Auf die Schiene.

Und an die ganzen Ulf Poschards und Christian Lindners und die anderen Porsche- und Audi-A-8 und S-Klasse-Fahrer, die jetzt weinen, weil sie durch ein Tempolimit in ihrer Freiheit beraubt werden, wenn sie nicht mehr 250 km/h fahren dürfen, hab ich eine dringende Bitte:

So lange Ihr so rasen dürft, erwarte ich von Euch, dass Ihr zu den auf der Autobahn bei Unfällen verletzten Menschen und den Hinterbliebenen derer, die es nicht überlebt haben, geht. Erklärt ihnen bitte, dass das Opfer, das sie erbringen, weniger Gewicht hat, als die Freiheit des Porschefahrers.

Und lebt gefälligst damit, wie sie auf Euch reagieren.

Kategorien: Allgemein