Es war 1989. In NRW war Kommunalwahl und in Düsseldorf trat das erste Mal die Partei „Die Republikaner“ an, auch als REP abgekürzt.
Ich war Student und freute mich über den Einsatz als Wahlhelfer. Wahlhelfer:innen sind die Leute, die im Wahllokal sitzen, die Ausweise oder Wahlbenachrichtigungen kontrollieren, Stimmzettel ausgeben und hinterher zählen, wie viele Stimmen die Parteien und Kandidat:innen bekommen haben. Also eine durchaus wichtige Tätigkeit in der Demokratie.
Ich war Helfer im Altenheim am Gallberg in Düsseldorf. Das war auch das Wahllokal, in dem ich hätte wählen müssen, aber da ich nicht wusste, wo ich eingesetzt werde, hatte ich schon per Briefwahl abgestimmt.
So saßen wir da und warteten auf die Wahlberechtigten. Unser Wahlleiter hatte schon einige Erfahrung und war sehr penibel. So hat er, während er anwesend war, nicht zugelassen, dass die Umschläge mit den zwei Stimmzetteln (einer für den Stadtrat und einer für die Bezirksvertetung) von den Wahlberechtigten in die Urne geworfen werden. Er nahm sie in die Hand und fühlte kurz, ob außer Stimmzetteln noch was anderes im Umschlag sein könnte.
Einmal, so erzählte her, hätten Spätaussiedler aus Russland ihre Reisepässe zu den Stimmzetteln in den Umschlag getan, weil sie dachten, irgendwer müsse ja nachhalten, dass sie wählen waren. Das Problem dabei ist: Sind ihre Stimmen jetzt noch geheim? Wenn sie noch geheim sind, müssen sie gezählt werden, wenn sie nicht mehr geheim sind, dürfen sie nicht gezählt werden. Es gab mit der städtischen Wahlleitung daher intensive Telefonate und alles verzögerte sich in den späten Sonntagabend.
Derartiges geschah 1989 nicht.
Was bei allen Wahlen, bei denen ich in diesem Wahllokal half, passierte, war Folgendes:
Ein rollendes Wahllokal.
Die FDP hatte eine Art Urne auf einem Rollwagen und zog damit durch die Zimmer, in denen bettlägrige Bewohner:innen des Altenheims lebten. Diese konnten dann in ihrem Zimmer die Stimme abgeben.
Das alles war so mit der Wahlleitung abgestimmt und trotz des G’schmäckles ok. Weiß jemand, ob es noch dort heute so ist, 32 Jahre später? Der Bewegliche Wahlvorstand ist seit 1993 ja sogar im Gesetz definiert, aber nur mit FDPlern? Bitte?!?
Jedenfalls sind die Wahlen hierzulande öffentlich, das heißt, dass es oft Besucher:innen gibt. Unser Besucher saß in der Ecke des Wahllokals und beobachtete uns. Er war ein oder zwei Jahre älter als ich und wir waren in benachbarten Straßen aufgewachsen und kannten uns. Er hatte nicht viele Freunde und es kursierten eine Reihe peinlicher Geschichten über ihn, die hier den Rahmen sprengen würden.
Jedenfalls war er Kandidat der Republikaner.
In NRW wählt man in der Kommunalwahl den Kandidaten der Partei, der im Stimmbezirk, in dem man wohnt, aufgestellt ist. Wer in seinem Stimmbezirk die meisten Stimmen hat, kommt in den Stadtrat
Am Ende sitzen im Stadtrat aber die Parteien in der prozentualen Stärke, in der sie die Stimmen im ganzen Stadtgebiet erhalten haben. Das erreicht man, indem man die Gesamtzahl der Sitze so weit aufbläst, dass alle Parteien über ihre Direktkandidat:innen und die Reservelisten so viele Sitze im Rat haben, dass das Verhältnis der Gesamtstimmen passt. Siehe auch Überhang- und Ausgleichsmandate.
Da saß er also, sein Name auf dem Stimmzettel. Laut Wähler:innenverzeichnis hatte er bereits per Briefwahl abgestimmt. Auf einmal sprang er auf und ging eilig zur Toilette – wir saßen in einem Raum neben der Cafeteria des Altenheims – und seine Eltern erschienen. Sie stimmten ab, warfen ihre Umschläge ein (in denen sich keine Reisepässe befanden, wie der Wahlleiter sorgfältig prüfte) und gingen wieder.
Kurz darauf erschien ihr Sohn wieder.
Es passierte in den Stunden bis 18 Uhr, der Schließung aller Wahllokale, sehr viel Nichts. Um 18 Uhr schloss der Wahlvorstand das Wahllokal, der REP-Kandidat protestierte. Die Wahl und die Auszählung seien doch öffentlich!
Natürlich durfte er zur Auszählung eine Sekunde später wieder rein. Man muss halt der Form halber sicherstellen, dass wirklich keine Wähler:in mehr im Wahllokal ist und nach dem Öffnen der Wahlurne noch mit einem Umschlag voller Stimmzettel winkt.
Wir schütteten die Wahlurne aus, alle Umschläge lagen auf dem Tisch. Die Stimmzettel – farblich erkennbar – wurden auf zwei Haufen gelegt. Einer für die Ratswahl, einer für die Wahl der Bezirksvertretung. Zuerst zählten wir alle Stimmzettel durch und verglichen die Zahl mit der der abgegebenen Stimmen laut Wähler:innenverzeichnis.
Stimmte überein.
Wir bildeten Häufchen von Stimmzetteln mit den Stimmen jeweils einer Partei, einen mit leeren Stimmzetteln und einen mit den ungültigen Stimmen, wo zum Beispiel zwei Kreuze auf einem Zettel waren.
Unser Wahlbeobachter schaute uns mit immer größerer Unruhe über die Schulter.
Die REP hatten exakt keine Stimme bekommen.
Er hatte exakt keine Stimme bekommen.
Auch nicht von seinen Eltern.