Hallo, mein Name ist Volker und in meiner Freizeit lasse ich mich von Autofahrern* beschimpfen und bedrohen, weil ich mich an Tempolimits halte.
Und das sagt viel über uns als Gesellschaft.
Das ganze fing früh an. Ich war bei der Bundeswehr, in der Eifel stationiert, und lebte am Wochenende noch bei meinen Eltern am Stadtrand von Düsseldorf. Um in die Stadt zu kommen musste ich „den Gallberg“ entlang fahren, also die Bergische Landstraße,
die innerorts von Düsseldorf (Flachland) Richtung Mettmann (sehr hügelig) verläuft.
Ungefähr auf halber Strecke zwischen der Wohnung meiner Eltern und dem Krankenhaus von Düsseldorf-Gerresheim hat diese Straße eine serpentinenartige Kurve, weil der Hügel dort ungeheuer steil ist. Die Strecke liegt komplett innerorts und war damals, Ende der 1980er, mit 11 eigentlich überflüssigen Schildern „50“ nochmals ausdrücklich als Tempo-50-Straße ausgeschildert.
Woher ich weiß, dass es 11 Schilder waren?
Nachdem ich immer wieder, wenn ich die Strecke mit 50 km/h befuhr, von anderen Autofahrern* bedrängt oder gar angehupt wurde, hab ich die Schilder gezählt. Das Tempolimit ist nämlich sinnvoll, gerade wegen der engen Serpentinenkurve, in der man den Gegenverkehr nicht sehen kann und bergab in der Rechtskurve immer wieder mal Autos auf der Gegenfahrbahn landeten.
Am Krankenhaus gab es eine Ampel mit Linksabbiegerspur und die Chance war groß, dass so ein Drängler bei roter Ampel auf der Spur neben mir hielt und mir den Vogel zeigte oder gar irgendwas rüberbrüllte.
Einmal brüllte ich zurück „Ich fahr da gerne 70, wenn Du mir die Knollen zahlst, die ich dann bekomme!“, was die Diskussion aber nicht in sinnvolle Bahnen lenkte.
Eines Tages wollte ich nach Gerresheim fahren und bog am Krankenhaus links ab. Die Ampel war grün, ich fuhr auf den Linksabbieger, und der Golffahrer, der schon die ganze Zeit mit knapp einem Meter Abstand hinter mir her fuhr und sich aufregte, überholte mich.
Er fuhr also links von der Linksabbiegerspur auf die Gegenfahrbahn, und während ich nach links abbog fuhr er an mir vorbei.
Dann setzte er sich vor mich, schaltete die Warnblinkanlage ein und hielt so an, dass ich nicht ohne zurück zu setzen vorbeifahren konnte.
Der ungefähr 50jährige Mann, der mein Vater hätte sein können, stieg aus. „Keine Sorge, Jung, ich zeig Dich nicht wegen Nötigung an, aber man kann da doch nicht mit 50 schleichen! Wir wollen doch alle mal ankommen!“.
Ich sah ihn an, holte Luft und sagte sinngemäß: „Keine Sorge, ich hab Sie auch gar nicht genötigt, Sie haben einfach 11 Verkehrsschilder ignoriert. Aber Sie nötigen mich jetzt.“ Ich öffnete das Handschuhfach, wo Kugelschreiber und Notizblock lagen, und schrieb sein Kennzeichen auf. „Wenn Sie mich jetzt nicht weiterfahren lassen, werde ich Sie anzeigen.“
Ich schloss das Fenster, setzte zurück und fuhr an einem sprachlosen Golffahrer vorbei.
Solche Erlebnisse kenne ich, seit ich den Führerschein habe. Natürlich ist es im Land der Verbrennungsmotoren eine Todsünde, auf einer zweispurigen Autobahn mit „nur“ 130 km/h einen (!) Lkw zu überholen, wenn doch ein Mercedes gerade die linke Spur mit 200 befahren möchte – obwohl aus Lärmschutzgründen 130 vorgeschrieben ist.
Einmal befuhr ich eine Baustelle – Tempolimit 80 km/h – und fuhr dort auf der linken Spur mit (laut Tacho) 83, rechts waren Lkw, die etwas langsamer waren. Durch diese Verkehrssituation galt das Rechtsfahrgebot nur noch eingeschränkt, und ich fuhr ja eh in der höchsten erlaubten Geschwindigkeit. Also alles gut.
Von hinten kam ein Porsche mit definitiv mehr als 80 und der Fahrer nutzte alle vorhandenen Lampen, um auf sich aufmerksam zu machen. Ich saß in einem R4 mit 34 PS, was sollte ich seiner Ansicht nach tun? Ich war gerade neben dem vordersten Lkw der Kolonne, auf die rechte Spur konnte ich jetzt nicht, entweder musste ich langsamer werden und hinter dem Lkw einscheren – oder der Porschefahrer musste sich gedulden bis ich vorbei war.
Ich scherte also mit angemessenem Abstand vor dem Lkw ein – der Porschefahrer setzte sich vor mich und machte eine Vollbremsung.
Womit ich irgendwie gerechnet hatte, weshalb nichts passiert ist.
Ich hatte das Kennzeichen des Porsche nur unvollständig notieren können, erstattete aber auf der nächsten Polizeistation Anzeige „wegen aller in Frage kommenden Delikte“. Nach ein paar Wochen erhielt ich eine Mitteilung der Staatsanwaltschaft, dass „das Ermittlungsverfahren wegen Nötigung“ gegen mich eingestellt worden sei. Hä? Ich rief die Rechtspflegerin an, die das Schreiben ausgefertigt hatte.
Man hätte eigentlich nicht damit gerechnet, den Porschefahrer aus meiner Anzeige identifizieren zu können, aber, so erfuhr ich, er war so „clever“, mich wegen Nötigung anzuzeigen. Nach seiner Schilderung sei ich in der Baustelle 50 km/h gefahren, von allen Lkw rechts überholt worden, und der Porschefahrer sei dann zwischen zwei Lkw eingeschert, um an mir vorbei zu kommen.
Dass die Schilderung des Porschefahrers nach der allgemeinen Lebenserfahrung Unsinn war, lag auf der Hand. Und nicht nur ich hatte das in meiner Anzeige halt anders beschrieben, auch der Lkw-Fahrer hatte Anzeige erstattet, weil auch er wegen des Porschefahrers eine Vollbremsung machen musste.
Als Berufspendler bin ich mangels brauchbarer öPnV-Verbindungen viel unterwegs und ungefähr einmal im Jahr ergibt es sich, dass ich einen anderen Autofahrer* anzeige. Nicht, weil ich ein „selbsternannter Hilfssheriff“ bin, nein, ich mache auch Fehler. Wenn ich „erwischt“ werde oder mein Fehler andere Konsequenzen hat stehe ich dafür auch ein.
Es gibt nur halt Grenzen.
Inzwischen lebe ich in einem Verkehrberuhigten Bereich. An jeder Einfahrt steht das große blaue Schild, das oft als „Spielstraße“ interpretiert wird, weil dort stilisiert ein Haus und zwei spielende Kinder abgebildet sind. In solchen Bereichen gilt Schritttempo. Und: Fußgänger:innen und Autos sind gleichberechtigt.
Was das Tempo in Zahlen bedeutet hat die Rechtsprechung erarbeitet; je nach Urteil heißt es „5 km/h“, „7-9 km/h“ oder „auf alle Fälle deutlich langsamer als 20 km/h.
7-9 km/h sind die verbreitete Meinung. Bei der Bundeswehr rechnet man beim sehr zügigen Leistungsmarsch mit 6 km/h. Fährt man mit dem Auto 7-9 km/h, wird die zugegeben peinliche bis zeitweise gruselige Situation, in der ein Auto eine längere Strecke neben einer zu Fuß laufenden Person her fährt, schonmal vermieden.
Aber: Es halten sich nicht alle dran. Etliche Anwohner:innen ignorieren es, Ortsfremde sowieso.
Einmal fuhren an mir ein Kleinwagen mit einem jungen Paar und ein Herr im Cabrio vorbei, der Herr im Cabrio hupte energisch. Der junge Mann hielt an und fragte, was sei, „Fahren Sie mal zügig und schleichen nicht so!“ wurde er angemotzt.
„Hier ist Schritttempo“, sagte er, und wurde vom Herrn im Cabrio aufgefordert, diesen nicht zu belehren. Ich meinte „Sorry, dass ich mich einmische, aber genau genommen haben Sie durchs Hupen mit den Belehrungen angefangen. Hupen ohne Gefahrensituation in einer geschlossenen Ortschaft kostet auch schon 10€.“
Ähnliche Dialoge hatte ich auch schon viele.
„Da ist kein Schild mit Schritttempo, ich wohne seit 20 Jahren hier, das müsste ich kennen“ – „Dann lesen Sie mal nach, was das blaue Schild da hinten bedeutet.“
„Hier ist Tempo 30, und wenn Du mein Kennzeichen fotografierst, schlag ich Dir das Handy aus der Hand!“
„Wir können das ja mal wie Männer klären, ob hier Schritttempo ist oder nicht.“
Bislang (in 6 Jahren hier) gab es aber nur zwei Fälle, bei denen ich am Ende jemanden angezeigt habe.
Einmal war es ein Lkw. Vor unserem Haus steht ein Blumenkübel, gegenüber sind Parkplätze parallel zur Fahrbahn. Zwischen meinem Auto, das gegenüber stand, und dem Kübel waren knapppe 3m Platz. Während ich zu meinem Auto gehe und die Tür aufschließe, kommt ein Lkw mit rund 30 km/h von links, bremst vor dem Blumenkübel ab und fährt im Schritttempo durch die Engstelle zwischen dem Kübel und meinem Auto durch. Hätte ich nicht reflexartig die Tür zugeknallt und mich mit dem Rücken an das Auto gequetscht, hätte er mich umgefahren.
Seine Spedition hat auf meine Mail, ob man sich für solches Verhalten der eigenen Fahrer interessiere, nicht reagiert. Also zeigte ich ihn an. Der Fahrer hatte danach einen Punkt in Flensburg und musste eine ordentliche Geldstrafe zahlen.
Ein zweites Verfahren läuft gerade. Jemand aus der Nachbarstadt wollte über den Verkehrsberuhigten Bereich „abkürzen“. Kluge Idee. Lieber 500m im Schritttempo als 700m mit 50. Er fuhr im Schritttempo hinter mir her, konnte aber wegen der Blumenkübel und Parkplätze nicht überholen. Als ich in unsere Auffahrt fuhr, hielt er an und kurbelte das Fenster runter.
„Hier ist Schritttempo, ne?“ rief ich in seine Richtung. Er setzte zurück und meinte:
„Reiss mal Dein Maul nicht so weit auf, Du dumme Sau, ich zeig Dich jetzt wegen Verkehrsbehinderung an!“
Ich fragte ihn, ob ich hm direkt meine Personalien geben solle, fotografierte dann sein Kennzeichen und ihn, während er mein Kennzeichen aufschrieb.
„Hast Du dumme Sau mich fotografiert? Dafür zeig ich Dich auch an.“
Noch bevor er aus dem Ort raus war, hatte ich ihn bereits per Internetwache angezeigt: Wegen Nötigung und Beleidigung.
Warum fragen wir uns eigentlich, wieso inzwischen Rettungspersonal und Polizist:innen beschimpft, bedroht oder an Silvester mit Böllern beworfen werden?
Vielleicht passiert das, weil der Arschlochlevel, die Selbstermächtigung, sich über Regeln hinwegzusetzen, seit Jahrzehnten toleriert wird und wie ein Pilz sei Myzel in alle möglichen Bereiche des Lebens ausdehnt?
Vielleicht müssen wir alle einfach die vorhandenen Grenzen verteidigen, wenn sie bewusst oder durch Ignoranz verletzt werden?
*) lustigerweise hat bisher nur eine Frau sowas gemacht, die aber der statistisch zu erwartende Ausreißer gewesen sein wird. Daher sehe ich nicht, das zu gendern.
[…] das Fahren mit der richtigen Geschwindigkeit. Mit dem Thema darf ich gar nicht erst anfangen, ich bin Straßenverkehrsordnungsspießer und finde […]
Die Aggressivität ist wirklich enorm geworden. Daher vermeide ich jegliche Ansprache bei Fehlverhalten, vor allem wenn ich täglich mit dem Rad unterwegs bin, und zeige einfach an. Aber was das an Lebenszeit kostet, das ist nicht schön.
Wenn ich (mit dem Motorrad) in den Urlaub fahre, freue ich mich immer, wenn ich die Grenzen in die Nachbarländer überschritten habe, Tempolimits an die sich weitestgehend gehalten werden und einfach entspannterer Verkehr.
Als ich letztes Jahr in Island war, konnte man aber dennoch deutsche Fahrer in den Mietwagen „erkennen“. Zu schnell, überholen im Überholverbot, zu eng bei Radfahrern. Die glauben vermutlich, dass außerhalb der Ortschaften in der kargen Gegend Blitzer oder Polizei auffallen würden, aber dort gibt es halt nahezu unsichtbare winzige stationäre Kameras, die den Verkehr überwachen und anhand derer die Bussgelder erhoben werden.