Aktivist:innen, die sich auf Straßen festkleben. Menschen, die ein verlassenes Dorf vor dem Abbagern durch die RWE retten wollen. Suppe auf Gemälde. Unsere Zeit entgleist momentan, sowas gab es noch nie.
Wirklich?
Nennen wir es beim Namen: Es ist Ziviler Ungehorsam. Zivil, weil er von Bürger:innen praktiziert wird, Ungehorsam, weil es Gesetzesverstöße sind.
Eine neue Art des politischen Aktivismus?
Eher nicht:
Ziviler Ungehorsam (aus lateinisch civilis ‚bürgerlich‘; deshalb auch bürgerlicher Ungehorsam) ist eine Form politischer Partizipation, deren Wurzeln bis in die Antike zurückreichen. Durch einen symbolischen, aus Gewissensgründen vollzogenen und damit bewussten Verstoß gegen rechtliche Normen zielt der handelnde Staatsbürger mit einem Akt zivilen Ungehorsams auf die Beseitigung einer Unrechtssituation und betont damit sein moralisches Recht auf Partizipation.
Wikipedia
Es gibt ihn also schon seit der Antike. Bis zur Bibel, wo in Exodus 1,15-17 die hebräischen Hebammen sich weigern, dem Befehl des Pharao zu folgen und alle neugeborenen Jungen zu töten, muss ich gar nicht zurückschauen.
Ziviler Ungehorsam beginnt schon, wenn einfach zu erfüllenden Forderungen des Staates einfach nicht nachgekommen wird. 1983 sollte eine Volkszählung stattfinden, was durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gestoppt wurde. Das Gericht leitete von den Grundrechten aus dem Grundgesetz ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung ab, das durch die Begründung automatisch Verfassungsrang hat, auch wenn es dort nicht ausformuliert zu finden ist.
1987 sollte die Volkszählung dann unter Berücksichtigung des Urteils wiederholt werden und wieder gab es Aktivisten, die am Ende erreichten, dass rund 15% der Bürger:innen ihre Fragebögen nicht ausgefüllt hatten.
Auch das war ziviler Ungehorsam: Ich will nicht, dass der Staat bestimmte Daten über mich in einer Form hat, die ihm ermöglicht, diese zusammenzuführen, und um das zu verhindern verstoße ich gegen das Gesetz, das mich dazu verpflichtet, die Daten in dieser Form abzugeben.
Ziviler Ungehorsam war auch das, was Rosa Parks gemacht hat – als Afroamerikanerin auf einem Sitzplatz im Bus sitzen zu bleiben, obwohl ein Weißer dort sitzen will und auch durch die Gesetze das Recht hat, sie dort zu vertreiben.
Containern ist Ziviler Ungehorsam: Obwohl es gerichtlich als Diebstahl anerkannt ist, hole ich weg geworfene aber noch problemlos essbare Lebensmittel aus den Müllcontainern eines Supermarkts, um diese zum Beispiel Bedürftigen zur Verfügung zu stellen.
Ziviler Ungehorsam lag auch vor bei den Kundgebungen gegen den Bau des Kernkraftwerks Brokdorf. Wikipedia fomuliert das so: „Gegen Planung und Bau fanden seit November 1976 Demonstrationen der Anti-AKW-Bewegung statt, die im Laufe der Zeit eskalierten.“ Diese Demos haben sogar ein eigenes Lemma in Wikipedia, wo auch die „Eskalationen“ beschrieben werden:
Am Vormittag fand in Wilster eine Auftaktkundgebung des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) mit etwa 10.000 Teilnehmern statt. Anschließend begaben sich die Demonstranten trotz Polizeisperren in Richtung des Baugeländes des Kernkraftwerkes Brokdorf.
Wikipedia
[…]
Nach Abschluss [der Kundgebung], als ein Großteil der Demonstranten bereits den Rückweg angetreten hatte, gingen etwa 3000 militante Demonstranten mit Steinen, Molotow-Cocktails und Wurfgeschossen gegen Polizeibeamte vor. Die Polizei drängte die Demonstranten unter Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern und tief fliegenden Hubschraubern vom Baugelände ab. Der schwerwiegendste Zwischenfall ereignete sich auf den Wiesen am Baugelände. Dabei stürzte ein Polizist eines SEK bei der Verfolgung eines mutmaßlichen Steinewerfers in einen Wassergraben. Zwei Demonstranten schlugen ihm mit Knüppel und Spaten den Helm ein. Nach den Verdächtigen wurde wochenlang wegen des Vorwurfs des versuchten Mordes gefahndet, wodurch der Vorfall bundesweite Bekanntheit erlangte. Anhand von Pressefotos wurden zwei Männer identifiziert und wegen gefährlicher Körperverletzung sowie Landfriedensbruchs verurteilt.
Das ist natürlich eine ganz andere Qualität als keine Volkszählungsbögen abzuschicken oder auf einem Platz im Bus sitzen zu bleiben. Aber es ist Ungehorsam, also der Verstoß gegen Gesetze, und es ist zivil.
„Dafür können wir den linken Chaoten der Nachkriegszeit danken! Diesen Kommune1-Kommunisten!“
Zugegeben, dieser Eindruck drängt sich auf. Ist aber nicht so.
Auch während der „1000 Jahre“ des III. Reichs von 1933-1945 gab es zivilen Ungehorsam. So gab es gegen die „Aktion T4„, also die Tötung von Behinderten, der zur Einstellung führte.
Ziviler Ungehorsam zeichnet sich ja dadurch aus, dass er im Strafgesetzbuch nicht mit Strafe bedroht werden muss, da seine Aktionen selber Delikte sind, also Ordnungswidrigkeiten und Straftaten. Als Aktivist:in symbolisiere ich: Ich als Teil der Gesellschaft wende mich gegen staatliche Maßnahmen (oder staatliches Nichthandeln) und begehe als Symbol eine Straftat, um mehr Aufmerksamkeit zu erregen.
Oft ist Ziviler Ungehorsam damit verbunden, sich selber als Waffe einzusetzen. In Polen gab es 2013 Blockaden gegen den Neubau von Nerzfarmen, bei denen Menschen sich selber als Hindernis in den Weg gestellt haben.
Auch die Castor-Transporter wurden durch Blockaden an der Weiterfahrt gehindert: Menschen ketteten sich an Schienen. Die Weiterfahrt wäre möglich gewesen, hätte aber zu schweren Verletzungen und Todesfällen geführt. Die Aussage dieser Aktion: Ich bin so verzweifelt darüber, dass weiter Kernkraftwerke laufen und ihre Abfälle irgendwo gelagert werden müssen, dass ich mich selber gefährde, um es zu verhindern.
„Aber so kann man nichts erreichen. Das bringt die Leute nur gegen einen auf.“
Das möchte ich bestreiten.
Rosa Parks brachte eine Bewegung ins Rollen.
Greta Thunberg schwänzte die Schule und brachte eine Bewegung ins Rollen.
Und dann waren da die Soufragetten.
Die Suffragetten als militante Aktivistinnen stehen für die „alte“ Frage in sozialen Bewegungen nach der Anwendung der Protestmittel Pate: Sind ziviler Ungehorsam, defensiver oder offensiver Widerstand, Militanz und Gewalt „gegen Sachen“ oder weitergehend „gegen Personen“ ein adäquates Mittel, um Veränderungen im politischen System zu erreichen?
Die Soufragetten oder auch Blaustrümpfe haben es als Keimzelle der Frauenbewegung geschafft, die Gesellschaft auf den Weg zur Gleichberechtigung der Frauen zu bringen, indem sie sich für die „souffrage“, das Wahlrecht auch für Frauen, eingesetzt haben. Und sie haben nicht nur Schriften verteilt oder demonstriert.
Am 13. Oktober kam es zu einem regelrechten öffentlichen Skandal, als […] Annie Kenney und Christabel Pankhurst (1880–1958) in Manchester eine Versammlung der Liberalen mit den Unterhausabgeordneten Edward Grey und Winston Churchill durch Zwischenrufe zum Frauenstimmrecht störten und ein Banner mit dem Slogan „Vote for Women“ entrollten. Sie wurden unter Gejohle aus dem Saal entfernt und bei dem sich anschließenden Straßenprotest verhaftet.
[…]
Anstatt die veranschlagte Strafzahlung zu leisten, zogen es beide vor, ins Gefängnis zu gehen, ihre Strafe abzusitzen und damit symbolisch ein Zeichen zu setzen. Wenngleich die Aktion von der Presse vielfach negativ rezipiert wurde, hatte diese Form des auf Sensationen bauenden öffentlichen Protests Nachrichtenwert, was die Suffragetten erkannten und für sich nutzten.
Und es ging noch weiter. Am 30. Juni 1908 wurden die Scheiben von Nr. 10 Downing Street eingeworfen, 1912 wurden in ganzen Straßenzügen von London die Scheiben der Geschäfte eingeschlagen, Briefkasten wurden mit Säure übergossen, die Wiesen von Golfplätzen zerstört, Feueralarme ausgelöst und Fernmeldekabel gekappt: „Kein Wahlrecht – keine Telegramme“.
Später wurden britische Schlösser in Brand gesetzt, Gemälde wurden nicht, wie bei der Letzten Generation, nur mit Suppe beworfen (was durch das Glas vor dem Bild keinen nennenswerten Schaden anrichtet) sondern aufgeschlitzt.
Wurden Geldstrafen verhängt, wurden diese nicht gezahlt, um die Strafe öffentlichkeitswirksam im Gefängnis abzusitzen, dazu kamen Hungerstreiks und Zwangsernährung was die damals schon recht sensationsgeilen Zeitungsleser:innen immer wieder an die Existenz der Frauenwahlrechtsbewegung erinnert hat.
Das Ergebnis?
Das Frauenwahlrecht wurde in den USA 1919/20, in Großbritannien 1928, in Deutschland als Allgemeines Wahlrecht schon 1918 eingeführt.
Nicht trotz, sondern wegen der Öffentlichkeitswirksamkeit der Aktionen, wie politologisch und soziologisch heute überwiegend angenommen wird.
Wer also die Letzte Generation oder die Besetzung von Lützerath wegen des zivilen Ungehorsam kritisiert, schließt mit dieser Kritik automatisch auch die Soufragetten ein, die vergleichbare Aktionen gemacht haben und heute auch in Filmen wie 2015 in „Soufragette – Taten statt Worte“ mit Top-Besetzung gefeiert werden.
Disclaimer: Aktive Gewalt und Sachbeschädigung zum Durchsetzen einer politischen Meinung lehne ich für mich selber ab. Insbesondere Gewalt gegen Menschen, auch gegen Polizeibeamt:innen, die am Ende bei solchen Gelegenheiten von der Politik verheizt werden.
„Passive Gewalt“, also eine Blockade, sehe ich durchaus anders. Wobei auch die Frage ist, gegen wen die Blockade wirkt. Eine Blockade gegen willkürliche Autofahrer:innen würde ich (für mich) nicht befürworten, eine Blockade an einem Firmentor schon, weil dieser Protest gezielt und spezifisch ist.