Im Mai hat der Städte- und Gemeindebund – eine Vereinigung von Kommunen – seine „Münsteraner Erklärung“ verabschiedet. Gemeinden sollen sich dieser Erklärung anschließen, um den Bund dazu zu bewegen, noch vor dem geplanten Termin im November die Lage mit Geflüchteten, ihrer Verteilung, der Finanzierung ihrer Unterbringung etc. zu regeln.
Gemeinden, die sich der Münsteraner Erklärung anschließen, machen sich die Forderungen darin zu eigen. Und diese sind – teilweise – rechtspopulistisch.
Es gibt in der Politikwissenschaft den Begriff des Overton-Fensters:
Als Overton-Fenster wird der Rahmen an Ideen bezeichnet, die im öffentlichen Diskurs akzeptiert werden, unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Moral. Nach diesem Modell enthält dieses Fenster eine Reihe von Postulaten, die im aktuellen Klima der öffentlichen Meinung als politisch akzeptabel angesehen werden und die ein Politiker empfehlen kann, ohne als zu extrem zu wirken, um ein öffentliches Amt zu erhalten oder zu behalten. Das Konzept wird auf der ganzen Welt angewandt, insbesondere von politischen Analytikern, zum Beispiel zur Evaluation und Einschätzung von Sachverhalten. Ein verwandter Begriff ist der Meinungskorridor, der in Schweden und Norwegen verwendet wird.
Wikipedia
Wenn im Jahr 2003 eine Vereinigung wie der Städte- und Gemeindebund eine derartige Erklärung verfasst hätte, in der die Grenzen zwischen Arbeitsmigration und Flucht bewusst unklar sind, in der populistisch Unwahrheiten über gesetzliche Regelungen und tatsächliche Fakten impliziert werden, dann hätten die Medien von der taz bis zur FAZ die Vereinigung gegrillt.
Das ist aber 20 Jahre, fast eine Generation her. Rechtspopulistische Parteien wie die AfD und Die Basis sind gegründet worden und erstarkt, das Verbot der NPD wurde mehrfach in den Sand gesetzt. Reichsbürger haben sich bewaffnet. 2015/2016 hatten wir die sog. „Flüchtlingskrise“, die eigentlich eine Menschlichkeitskrise war.
In dieser Zeit haben sich die *GIDA-Gruppen und vergleichbare Organisationen etabliert. Sie haben populistisch mit falschen oder dramatisch überzogenen Behauptungen Angst geschürt und genau das eine gemacht: Sie haben bewusst die Grenzen zwischen Flucht und Arbeitsmigration verschwimmen lassen: Flüchtlinge wurden zu Migranten, zu „den neuen Fachkräften“, zu Einwanderern
Alte wie neue Medien haben das tagein tagaus repetiert und auf diese Weise rückte das Overton-Fenster in den letzten 20 Jahren schmerzhaft nach rechts. Mit „rechts“ meine ich nicht „konservativ“, damit meine ich rechtpopulistisch bis rechtsextrem.
Der Städte- und Gemeindebund beschloss nun am 11.5.2023 diese Münsteraner Erklärung. Und er schöpfte in den rechtspopulistischen Gegenden des Overton-Fensters geradezu aus dem Vollen, trennt nicht sauber – trennt eigentlich gar nicht – zwischen Flucht und Arbeitsmigration, ignoriert nationales und internationales Recht bei den Forderungen und impliziert rechtliche und tatsächliche Gegebenheiten, die so gar nicht real sind.
Das ist zynisch und menschenverachtend, geradezu so, als ob man an einem brennenden Wohnhaus vorbei geht, die Menschen mustert, die davor stehen, ihr nacktes Leben gerettet haben während ihr Hab und Gut Opfer der Flammen wird, und denkt: „Ach je, immer diese Wohnungssuchenden.“
Flüchtlinge suchen keinen besseren Job oder schönere Städte, wenn sie zu uns kommen. Sie wollen sich und ihre Familien vor Krieg und Katastrophen retten, sie fliehen vor politischer Verfolgung, weil sie sich daheim für Menschenrechte einsetzen oder weil ihre Tochter einen Sport betreiben will, den daheim nur Männer betreiben dürfen, weil sie homosexuell sind und verfolgt werden oder – was ich ganz perfide finde – weil sie wegen ihrer Religion oder ihrer Vorfahren in der Heimat kein menschenwürdiges Leben führen können.
Dabei haben sie aus der Genfer Flüchtlingskonvention und aus Artikel 14 der Menschenrechtskonvention das unbedingte Recht, bei uns angehört zu werden und Schutz als Geflüchtete oder gar Asyl zu beantragen. Dass wir das alles in EU- und Bundesrecht umgesetzt haben muss ich gar nicht erwähnen.
Aber was steht in der Erklärung?
Am Ende der verlinkten Presseerklärung ist eine Liste mit den Forderungen, die kritischen werde ich kurz durchgehen.
1. Klare Regulierung der Einwanderung
Einwanderung ist nicht erst gestern vom Baum gefallen. Die Regeln für die Einwanderung sind klar. Sie sind vielleicht nicht mehr ganz zeitgemäß, insbesondere angesichts des demoskopischen Wandels im Inland und der globalen Verwerfungen durch die Klimakrise, mit denen wir in den nächsten Jahrzehnten rechnen müssen.
Stünde dort „Anpassung der Regeln für die Einwanderung an die Gegebenheiten im Zusammenhang mit der Klimakrise und den globalen Veränderungen“ oder sowas, dann könnte man ins Gespräch kommen. Wenn aber direkt faktenwidrig impliziert wird, dass die Einwanderung nach Deutschland unklar reguliert ist, ist das rechtspopulistisch.
Und Rechtspopulistisch ist es auch, weil es in der Erklärung um die Verteilung und Finanzierung der Geflüchteten geht, die, nochmal ganz deutlich: nicht einwandern sondern flüchten. Die wollen nicht nach Deutschland, weil sie es hier so schön finden, sondern in erster Linie, weil es nicht der Ort ist, an dem ihnen Tod und Verfolgung drohen.
2. Gerechte Verteilung und Schutz der EU-Außengrenzen
Natürlich sind wir als EU Verpflichtungen eingegangen, uns gemeinsam und gerecht verteilt um Geflüchtete zu kümmern. Schließlich haben nicht alle EU-Mitgliedsstaaten Außengrenzen. Da gibt es aber Nachbesserungsbedarf. Auch innerhalb der Staaten sollen die Geflüchteten gerecht verteilt werden. Unbenommen, wer da nicht mitgehen kann hat die Welt nicht verstanden.
Im selben Atemzug aber – wieder wahrheitswidrig – zu implizieren, dass die EU-Außengrenzen nicht geschützt seien, ist wieder einmal rechtspopulistisch. Die EU-Grenzen sind nicht ungeschützt. Schließlich gibt es Frontex, die Agentur mit dem augenscheinlichen Auftrag, beispielsweise unter Verletzung von internationalem Seerecht die Seenotrettung Geflüchteter von EU-Territorium aus zu verhindern.
Das ist ein menschenunwürdiger Grenzschutz, aber eben keine ungeschützte Grenze. Was will die Münsteraner Erklärung noch erreichen? Wir bauen eine Mauer und Mexico Syrien zahlt sie?
4. Rückführung von Personen ohne Bleibeperspektive
Das Wort „Bleibeperspektive“ ist ein zynischer Euphemismus, den sich der Städte- und Gemeindebund nicht ausgedacht hat, der aber ins verschobene Overton-Fenster passt.
Es geht nicht um die Perspektive des Bleibens, es geht um die Möglichkeit der Rückkehr. Wäre es die Bleibeperspektive, dann würden beispielsweise nicht integrierte Personen mit fester Arbeit, die sich einen Platz in der Gesellschaft erarbeitet haben, abgeschoben.
Das alles reicht schon, um die Münsteraner Erklärung abzulehnen.
Wer sich ihr anschließt, der macht sich die rechtspopulistischen und unwahren Forderungen zu Eigen.
Es geht auch anders. Ende Mai hat der (konkurrierende) Deutsche Städtetag die Kölner Erklärung beschlossen. Sie stellt nicht monothematisch die Geflüchteten als Mutter aller kommunalen Probleme dar sondern geht weiter.
Ihre Themen und Forderungen sind der gesellschaftliche Zusammenhalt, Resilienz, Digitalisierung und Klimaschutz, wunderbar scharf getrennt wird Schutz für Geflüchtete gefordert und auch die Gewinnung von Fach- und Arbeitskräften durch Einwanderung, Bildung, bezahlbares Wohnen, lebenswerte Innenstädte, globale Verantwortung und stabile kommunale Finanzen.
Wer die Demokratie stärken will, schließt sich der Kölner Erklärung an, wer sich der Münsteraner Erklärung anschließt, der singt ein Lied, in das Rechtspopulisten einstimmen werden.