Ein paar Gedanken, die ich seit einigen Tagen formulieren will, was aber nicht so zwischen Suppe und Kartoffeln ging.
Presse. Politiker. Ängste. Verdächtigungen und Fahndungserfolge.
Als ich ein kleiner Junge war und wir in Lübeck lebten, wurde auch ich über böse Menschen aufgeklärt, die Kinder entführen. Deshalb darf man als Kind mit Fremden nicht mitgehen. Egal, was sie sagen, versprechen oder schenken. „Mitschnacker“ wurden sie im Kindergarten und in den Kinderhörspielen genannt, die ich auf Platte hatte. „Schnacken“ ist Plattdeutsch für Reden/Quatschen. Jemand also, der Dich überredet, mitzukommen.
Was diese bösen Menschen mit uns Kindern machen würden war weit jenseits des Vorstellbaren, weil es mit keinem Wort erwähnt wurde – bei 5jährigen durchaus verständlich. Dabei war Entführung und Missbrauch von Kindern auch literarisch und filmisch für Erwachsene kein Geheimnis mehr, nur traute sich in der noch etwas gehemmt-prüden Zeit keiner, es auszusprechen.
Daran erinnerten mich die Begründungen, die „Zensursula“ von der Leyen für ihre Internetsperren ins Feld führte: Eine Milliardenindustrie, deren Geschäftszweck es sei, Kinder zu vergewaltigen und Filme und Fotos davon ins Internet zu stellen und dort zu vertreiben. Und alles in Ländern, auf die wir keinen Einfluss haben, in denen „sowas“ nicht nur geduldet wird, sondern nichtmal verboten ist!
Da werden natürlich sehr diffuse Ängste ausgelöst. Kinder zu vergewaltigen ist ohne Frage auf einem der Spitzenränge der ekligen Verbrechen und wir fühlen alle mit den Opfern. Die Tat – und damit Täter und Opfer – ist aber durch die Mär der Bösen Staaten in die Ferne gerückt. Wir alle fühlen mit den Opfern, sind aber hilflos und können nicht an die Täter ran. Die sind ja in fremden, teilweise ungenannten Ländern. Und wir sind ja die Guten.
Doch selbst, wenn man Täter im eigenen Land vermutet, sind die Ängste nicht weniger diffus. Ich erinnere da nochmal an den Artikel von Thomas Pany aus telepolis – man hat (in den USA) Angst, seine Kinder nackt durch das eigene Haus laufen zu lassen:
Weil “weird people” sogar in die Wohnung hereinschauen könnten.
„Weird People“ sind so richtig schön anonym, sie haben kein Gesicht und keinen Namen, aber scheinen gemessen an den Ängsten in Trauben vor den Fenstern unschuldiger Familien zu kleben. Wie damals, als ich 5 war, der Mitschnacker. Auch er und seinesgleichen lauerten überall, hinter jedem Gebüsch, vor jedem Bonbonautomat. Böse sind schließlich die anderen, wie sind die Guten.
Dabei wissen wir doch alle eines: Sexueller Missbrauch von Kindern wird nur in sehr seltenen Fällen von Mitschnackern oder „Weird People“ begangen. Fast immer sind es Vertrauenspersonen, die auch ohne Schokoriegel oder Eis mit den Kindern ins Gespräch kommen.
Weil sie sich kennen.
Weil die Kinder ihnen aus ihrer Beziehung zueinander vertrauen.
Das offenbart, wie perfide die scheidende Bundesregierung das Thema zu Wahlkampfzwecken aufgebauscht und verbogen hat. Wir, also alle 80 Millionen Menschen hier in Deutschland, sind die Guten. „Sowas“ gibt es bei uns nicht, aber die, bei denen es „sowas“ gibt, sind richtig böse und verdienen sich dumm und dusslig dabei.
Wir erinnern uns alle an den aktuellen Fahndungserfolg des BKA, das zusammen mit dem Fernsehen und allen anderen Medien einen Täter gefasst hat. Er hatte kleine Jungs vergewaltigt, das alles gefilmt und „ins Internet gestellt“.
Der Fall bestätigt zum einen, das es den von Frau von der Leyen herbeizitierten Milliardenmarkt höchstwahrscheinlich nicht gibt:
Es ist heute illusorisch, dass jemand anonym einen Server betreibt und Millionenbeträge von Internetnutzern überwiesen bekommt. Das geht schon deshalb nicht, weil die möglichen Konsumenten nicht mehr bereit sind, online Geld zu bezahlen. Kreditkartendaten lassen sich heute per Mausklick zurückverfolgen.
Denn der Täter aus Mayen bei Koblenz hat die Aufnahmen nicht verkauft, sondern mit anderen getauscht.
Und es zeigt bezogen auf den Täter noch etwas anderes: Wie schon erwähnt ist es in der Praxis eben nicht der anonyme Mitschnacker, der gesichtslose Täter, der Kinder vergewaltigt. Es ist der (Stief)Vater, Onkel, Lehrer, oder wie in diesem Fall der Übungsleiter des Sportvereins.
Und wehe, einer von denen gerät mal in die Fänge der Volksmeinung. Der Täter aus Mayen stellte sich selber, nachdem auf jedem zweiten Titelbild sein Gesicht zu sehen war. Und obwohl die Medien jetzt, da er sich eben selber gestellt hat, sen Gesicht eigentlich gar nicht mehr zeigen dürften, tun sie es weiter. Schließlich ist er die Unperson des Sommerlochs und wir sind die Guten.
Da passt auch der gerade in etlichen Foren und Communities umgehende Aufruf zur „Todesstrafe für Kinderschänder„:
Für Rauchen unter 18 bekommt man eine Verwarnung. Für unangeschnalltes fahren eine Geldstrafe. Für Mord ein paar Jahre. Bei Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz paar Sozialstunden. Bei Waffenhandel eine minimale Gefängnisstrafe. Doch wenn man ein Kind vergewaltigt eine sinnlose Therapie???
Wenn auch du gegen Kindesmissbrauch bist, kopiere diesen Text in dein Profil!!Todesstrafe für Kinderschänder!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!111
Eine schöne Polemik, inclusive „einself“, die wunderbar in den Luftraum über den Stammtischen passt. Und wie Polemik es so an sich hat werden die Fakten verzerrt.
Was mit Menschen passiert, die auch nur im Verdacht stehen, Kinder vergewaltigt zu haben, zeigt uns der „Montessori-Prozess„. Ein Kinderpfleger (also „Kindergärtner“) eines Motessori-Kindergartens geriet in Verdacht, sich an den ihm anvertrauten Kindern vegriffen zu haben. Seine Kolleginnen und einschlägige Vereine „ermittelten“ und am Ende gab es rund 50 Opfer und Aussagen, die vor Gericht schon durch den gesunden Menschenverstand widerlegt werden konnten.
„Das erschütternde Ergebnis dieses Verfahrens ist, daß man Kindern auf diesem Gebiet (dem des sexuellen Mißbrauchs) etwas suggerieren kann, was sie dann als tatsächlich Erlebtes erinnern …“
Der Beschuldigte wurde freigesprochen, die Eltern der (vermeintlichen?) Opfer waren erschüttert. Der Fall wurde durch die suggestiven Befragungen der Kinder in den Sand gesetzt; ob der anfängliche Verdacht gegen den Beschuldigten berechtigt war oder nicht wird sich nicht mehr klären lassen. Weil die Guten einen bösen Menschen bestrafen wollten. Das Leben des Beschuldigten ist aber trotzdem ruiniert – er lebt heute unter einem neuen Namen woanders, übt wohl auch einen anderen Beruf aus. Weil die Guten ihn verdächtigt haben.
Besonders übel an diesem Fall ist, dass Kinder traumatisiert wurden, denn sie erinnern das, was ihnen suggeriert wurde, teilweise tatsächlich nachhaltig als selbst Erlebtes. Da sind Störungen im zwischenmenschlichen Vertrauen geradezu vorprogrammiert, ebenso wie Einschränkungen in der sexuellen Entwicklung.
Da spielt es dann auch keine Rolle, dass die Guten das gemacht haben, um einen Bösen bestrafen zu können.
Wie wäre es also, wenn wir alle versuchen, das Maß zu halten? Die Zeiten, in denen man schnell mal zu Fackeln und Mistgabeln griff, um mögliche Unpersonen aus dem Dorf zu vertreiben, sind vorbei.
Nach der Kriminalstatistik des Jahres 2007 gab es in diesem Jahr 3836 Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs von Kindern, in einem Fall wurde das Opfer auch getötet. Im selben Jahr wurden 33.772 Kinder im Straßenverkehr verletzt, 111 kamen bei Verkehrsunfällen um.
Die Angst, dass „Weird People“ vor unserem Fenster lauern und ausspähen, welche kleinen Kinder sie als nächste entführen werden, ist unbegründet und Panikmache. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder von Vertrauenspersonen vergewaltigt werden, ist auch nicht wirklich hoch, wenn man sie an der Wahrscheinlichkeit misst, als Kind überfahren zu werden.
Bei fast 100% liegt jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass durch gut gemeinte aber laienhafte Befragungen von Kindern Sachverhalte suggeriert werden, die nicht der Wahrheit entsprechen und im Zweifel sogar ein Ermittlungsverfahren unmöglich machen bzw. zum Freispruch von wirklichen Tätern führen können.
Ebenso wahrscheinlich ist, dass durch Panikmache, diffus geschürte Ängste und schlichte politische Lügen ein Klima heraufbeschworen wird, in dem eine wirkliche Lösung des Problems nicht mehr möglich ist.
Denn weil wir die Guten sind ist das unsere Aufgabe.
[…] ergangen sei. Zurück zu Kachelmann. Und von dort ins Jahr 1996. Ich habe diesen Fall schon an anderer Stelle hier im Blog angesprochen, es handelt sich um einen tragischen Fall aus der jüngeren Rechtsgeschichte, den […]