Nach Tragödien und Katastrophen neigen wir dazu, Verantwortliche zu benennen und zu beschuldigen. Selbst, wenn wir einen Täter schon gefunden haben, muss es doch jemand geben, der ihn hätte stoppen können und – quasi – auch schuldig ist.
Es war im Winter 1987/1988. Ich war Zeitsoldat, stationiert Daun in der Eifel und gerade zum Stabsunteroffizier befördert worden.
Der Großteil meiner Kameraden kam aus der Eifel und aus dem Saarland, ins Saarland gab es auch eine Reihe Fahrgemeinschaften. Wir Rheinländer lebten jedoch so verstreut, dass wir alleine fahren mussten.
Eines Tages ging es wie ein Lauffeuer durch die Kompanien: Ein Kamerad – nennen wir in Uli – sei in Saarlouis angeschossen worden. Ein Schuss von unten durch den Kopf. Kiefer zerfetzt, Auge verloren, Hirnschaden.
Was zum Teufel war da passiert? Wurde er überfallen? Hat er sich in einen Überfall eingemischt? Eine Beziehungstat? Wir kannten Uli als eher introvertierten Typen. Seine Freundin hatte er auf dem Unteroffizierlehrgang kennen gelernt, den wir Fernmelder in Feldafing absolvierten. Sie lebte in München, er besuchte sie in den dienstfreien Schichtphasen.
Hatte wirklich niemand Kontakt zu ihr? Zu seiner Familie?
Am nächsten Tag hieß es, zum Zwischenfall sei bei einem Überfall auf einen Sexshop in Saarlouis gekommen.
Uli, unser Kamerad mit der Freundin in München, deren Foto in einem kleinen Rahmen am Armaturenbrett seines Nissan Micra hing, Uli war maskiert und mit einem Revolver in den Sexshop eingedrungen und wollte eine der beiden Verkäuferinnen vergewaltigen. Die kriegte jedoch seine Waffe zu fassen und ein Schuss löste sich, der zu den Verletzungen führte.
Einen Monat zuvor hatte er bereits – in derselben Kleidung und mit derselben Sturmhaube – denselben Sexshop zu überfallen versucht, scheiterte aber.
Einige Tage – vielleicht eine Woche? – später brachte ein Mitglied seiner Fahrgemeinschaft einen Zeitungsartikel mit.
Uli war offenbar seit Jahren schwer medikamentenabhängig. Die Freundin existierte gar nicht, die Fotos in seinem Spind und am Armaturenbrett waren aus dem Quellekatalog ausgeschnitten und gerahmt, damit man nicht auf den ersten Blick sah, dass es keine echten Foto waren.
Er hatte wegen seiner Sucht bereits Rezepte auf gestohlenen Rezeptblöcken gefälscht und eine Apotheke in einem Nachbarort überfallen.
Hätten wir es erkennen können? Wir alle waren mal bei ihm in der Stube, kannten die Fotos der hübschen Schwarzhaarigen aus dem Spind und dem Auto. Auch ich war mehr als einmal mit ihm nach Daun in den Supermarkt gefahren.
Hätte nur einer von uns die Bilder genauer angesehen, die typische Rasterung eines Vierfarbdrucks hätte uns nicht entgehen können.
Hätte nur einer mal das Handschuhfach des Micra geöffnet – darin befanden sich laut Pressebericht die Medikamente und eine große Menge Munition für den Revolver, vermutlich auch der Revolver selbst.
Wir hätten können, aber wir haben nicht.
„Das mit der Freundin in München hab ich dem eh nie geglaubt.“
„War ja klar, dass der nicht ganz sauber ist, hatte ja kaum Freunde in der Kompanie..“
Wie Karl Valentin schon Jahrzehnte zuvor feststellte: Hinterher findet sich immer jemand, der alles schon vorher gewusst hat.
Wenn wir, seine engeren Kameraden, es erkannt hätten, dann nur durch Zufälle, denn die Erkenntnisse, die uns hellhörig gemacht hätten (Freundin existiert gar nicht, Fotos sind Vierfarbdruck, Handschuhfach ist voller Medikamente und Munition) hätten wir ohne vorsätzliches Eindringen in seine Privatsphäre eben nur zufällig gewinnen können.
In unserem Rechtsstaat stehen Freiheit und Sicherheit immer in einem Wettbewerb. Mehr Sicherheit kann ich nur durch weniger Freiheit erreichen. Ohne mehr Kontrolle, mehr Eindringen des Staates in die intimsten Bereiche unseres Lebens, kann ich weniger von Menschen ausgehende Risiken erkennen.
2015 sind 890.000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Seit dem haben sich weniger als ein halbes Dutzend sich als IS-Terroristen betätigt, darunter ein 12jähriger. Und von ihnen waren wenigstens zwei in Deutschland geboren und einer ein tunesischer Krimineller, der sich auf der Flucht vor der Inhaftierung in mehreren EU-Staaten als Flüchtling ausgegeben und fröhlich weiter Delikte begangen hat.
Tatsächlich gibt es fast zehnmal so viele gewaltbereite Rechtsextremisten wie Islamisten in Deutschland, wie der Verfassungsschutz berichtete.
Das Problem in unserer Wahrnehmung ist, dass der Großteil der Bewohner unseres Landes nicht zu den potenziellen Opfern von Rechtsextremisten gehören wird (die MigrantInnen und Linke wären), der Islamismus aber uns alle betrifft.
Tatsächlich haben Rechtsextreme sogar dasselbe Ziel wie Islamisten: Einen Keil zwischen die nicht-migierte Bevölkerung und Flüchtlinge im Besonderen sowie Moslems im Allgemeinen zu treiben. Die Rechtsextremen wollen die „Fremden“ rauswerfen können, die Islamisten die rausgeworfenen Moslems aufnehmen und gegen den gemeinsamen Feind (der dann wir sind) aufzuhetzen.
Die Rechtsextremisten – da schließe ich die AfD ein – sind sozusagen die 5. Kolonne des IS.
Dummerweise ist es natürlich so, dass die Mahnungen der Rechten vor islamistischen Anschlägen „aus Kreisen der Flüchtlinge“ seit den Anschlägen in Paris und Berlin scheinbar Recht hatten. Das verkennt, dass die verlorenen Ausweise im Bataclan oder dem Lkw in Berlin genau aus einem Grund verloren wurden: Um den Anschein zu erwecken, dass die Attentäter Flüchtlinge waren, um den Keil tiefer zu treiben.
Die Attentäter vom Bataclan hatten tatsächlich gültige Pässe, mit denen sie per Linienflug wieder in die EU hätten einreisen können, kamen aber auf der Balkan-Route und ließen sich, um Spuren zu hinterlassen, quasi an jeder Ecke als Flüchtlinge registrieren.
Aber auch Linke haben Angriffe auf Flüchtlingsheime durch Rechte vorhergesagt (es sind nur halt nicht 80 Millionen betroffen sondern „nur“ die Flüchtlinge). Es gibt so viele „Vorhersagen“ von Unheil durch die Microwelle, das Impfen, den geregelten Katalysatore an Benzinmotoren, scheinbar kann alles Unheil verursachen, so, dass man immer jemanden findet, der es schon vorher gewusst zu wissen behauptet hatte.
Unsere Aufgabe ist, diese „Vorhersagen“ zu bewerten. Dazu muss man zum einen beurteilen, ob statistische Übereinstimmungen (Korrelationen) in irgendeiner Form einen Kausalzusammenhang haben oder nur Zufälle sind. Dazu braucht man kein Studium, gesunder Menschenverstand und etwas Nachdenken reicht.
Weiterhin muss man die Intention der Vorhersagenden und ihre Qualifikation bewerten. Politiker haben eine politische Agenda, Wissenschaftler weniger.
Wir können nie (wirklich, echt jetzt) alle Risiken ausschließen. Wenn hinterher jedoch irgendwer irgendwem die Schuld zuspricht, müssen sachlich überlegen, ob das Behauptete kausal wirklich korrekt ist und wir für die Zukunft Einschränkungen auch unserer Freiheiten akzeptieren.
Denn weniger als 12 islamistische Gewalttäter (genau genommen komme ich auf weniger als 6) bei 890.000 Flüchtlingen (aus deren Kreisen nur 2 kleinere Fälle stammten) alleine in 2015 rechtfertigen keinen Generalverdacht gegen alle Flüchtlinge. Dann müsste auch angesichts der Anschläge gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte durch Rechtsextremisten auch ein Generalverdacht gegen „Herkunftsdeutsche“ gelten.