Im Schnitt werden in Deutschland jedes Jahr rund 400 Frauen und Mädchen ermordet. Das ist schrecklich und jedes genommene Leben ist eines zu viel. Medien scheinen das anders zu sehen und gewichten den medialen Wert der Mordopfer unterschiedlich.
Wenn jedes Jahr 400 Frauen und Mädchen ermordet werden, dann ist das mehr als ein Todesfall pro Tag. Nun sind alle Mordfälle einfach nur tragisch und das Leben des einen Menschen sollte nicht mehr wert sein als das Leben eines anderen.
Möglicherweise gibt es Fälle, in denen das öffentliche Interesse am Fall größer ist, als bei anderen Taten, beispielsweise, wenn das Opfer oder der Täter prominent sind. Bei 400 Fällen pro Jahr muss man aber davon ausgehen, dass nicht über jeden bundesweit berichtet wird und die meisten im Lokalteil der Zeitungen bleiben. Zudem sind rund 130 Fälle jedes Jahr Morde, bei denen Frauen durch die Hand ihres Partners sterben, was dann häufig als „Familiendrama“, oder, wenn der Mann sich selber im Rahmen eines Erweiterten Suizids tötet, als „Familientragödie“ verbrämt wird.
Emotionaler Schlagzeilenbullshit, der nicht nur mich seit Jahrzehnten ärgert. „Tragödie“ klingt so unausweichlich, als ob keiner der Beteiligten eine Wahl gehabt hätte, und verschleiert auf eine abstoßende Weise, dass in einer großen Zahl der Fälle bereits vorher häusliche Gewalt aufgefallen war und man durchaus durch Hilfestellung den Mord hätte verhindern können, wenn die Gesellschaft als Ganzes das gewollt hätte.
Noch widerlicher finde ich die Art, wie in den letzten Monaten Sexual- und Gewaltdelikte, bei denen möglicherweise Zuwanderer Tatverdächtige sind, medial ausgeschlachtet werden. Es sind alles dramatische und tragische Fälle, bei denen ein Mensch das Leben verliert und das Leben anderer Menschen aus seinem nahen Umfeld oft eine tragische Wende nimmt.
Keine Frage.
Aber was Morde an Frauen und Mädchen angeht, so gibt es davon mehr als einen am Tag.
Kandel ist tatsächlich überall.
Oder Mainz.
Oder Viersen.
Nicht, weil Frauen und Mädchen zu Tode gekommen sind und Flüchtlinge tatverdächtig sein könnten, sondern weil Frauen und Mädchen zu Tode gekommen sind. Dass unter Tätern wie Opfern auch Flüchtlinge sind, das liegt in der Natur des Menschen. Tatsächlich sind – ganz im Gegensatz zur Darstellung der AfD und anderer Rassisten – die Morde an Minderjährigen seit Ankunft der Flüchtlinge gerade nicht ins Unermessliche gestiegen, sondern im Vergleich zu den Jahren davor eher geringer.
Auch gibt es seit 2015 nicht mehr „überfallartige“ Vergewaltigungen durch Einzeltäter oder durch Gruppen. Die Zahlen sprechen da für sich. Die Fälle mit einzelnen Tätern nehmen kontinuierlich ab:
Gruppenvergewaltigungen sind mal mehr, mal weniger, aber bleiben seit Jahren im gleichen Rahmen. Wer auf das Bild klickt, kann sich die Zeitreihen dazu selber ansehen.
In den Medien sieht das aber völlig anders aus. Vergewaltigungen und Morde, die ansonsten kaum über die Lokalpresse hinaus wahrnehmbar waren, sind auf einmal in allen Nachrichtensendungen, weil die Tatverdächtigen „südländisch“ oder „nordafrikanisch“ beschrieben wurden. Was auch immer das heißen soll.
Das hat fatale Wirkungen: Nicht nur scheint die Behauptung der AfD und anderer Rassisten, erst die Zuwanderer hätten sexuelle und andere Gewalt in unser Land gebracht, bei so vielen Berichten nicht mehr abwegig – man liest und hört ja nur noch von Fällen, wo sie es scheinbar waren – nein. Solche Beschreibungen lenken auch noch mögliche Zeugen ab.
Im Fall in Viersen wurde der Täter in den ersten Pressemeldungen als nordafrikanisch mit glänzendem schwarzen Haar beschrieben. Alter und Kleidung erwähnt die Pressemeldung nicht – wohl aber die BILD. Woher hat sie die Info? Anruf beim Pressesprecher? Ist plausibel, hätte aber in die Pressemeldung gehört. Ein rotes Oberteil, wie die BILD Es beschrieben haben soll, ist auf alle Fälle auffälliger als glänzendes schwarzes Haar.
[Update]
Tatsächlich erwies sich die Zeugenaussage, auf der die Beschreibung beruhte, schon als Unsinn. Die Rheinische Post schreibt dazu, nachdem sich jemand als Täter gestellt hat und der Mord mal wieder (siehe oben) zur „Beziehungstat“ euphemisiert wird:
Zeugen hatten der Polizei zuerst eine Täterbeschreibung gegeben, die nicht auf den 17-jährigen mutmaßlichen Täter passte. Zunächst hatte die Polizei daher nach einem 1,70 Meter großen Mann mit nordafrikanischem Aussehen gefahndet. Auch ein Hubschrauber war an der Suche nach dem vermeintlichen Täter beteiligt. Am Montagabend stellte sich ein 25-jähriger, türkischstämmiger Mann der Polizei. Er war bei einer Kontrolle geflohen, ein Tatverdacht erhärtete sich aber nicht.
Die Polizei wundert sich dann aber über Gerüchte und Spekulationen in den Sozialen Medien und übersieht, dass das Opfer selber rumänische Wurzeln hat und auch Menschen aus Rumänien durchaus „südländisch“, gar „nordafrikanisch“ aussehen können. Jedenfalls mit höherer Wahrscheinlichkeit als Menschen, deren Wurzeln in Deutschland sind.
Oder Spanier. Portugiesen. Italiener. Südfranzosen.
Ich kann nur einen Appell an alle PolizeipressesprecherInnen und MedienredakteurInnen richten:
- Alle Morde und alle Vergewaltigungen sind tragisch. Berichtet über alle mit dem gleichen Einsatz, schon, um den Opfern gerecht zu werden.
- Spart Euch Beschreibungen wie „südländisch“ oder „nordafrikanisch“. Die lenken den Focus weg vom Aussehen des Täters hin zu undefinierten und abweichenden Vorstellungen, wie jemand aus einem bestimmten Land aussieht.
- Nutzt in den Beschreibungen das, was man ohne Vorurteile beschreiben kann: Größe, Alter, Haarfarbe und Frisur, Bart oder kein Bart, Kleidung. Bei der Kleidung können Zeugen wenigstens zwischen T-Shirt und Anzug unterscheiden.
- Und – ganz wichtig – Ihr seid die Polizei und die Presse von über 80 Millionen Menschen in unserem Land, den 13%, die die AfD in den Bundestag gewählt habt, schuldet Ihr nichts. Berichtet sachlich und ausgewogen und nicht nur, weil es Klicks bringt.
Macht Euch nicht um der Reichweite Willen zum Büttel der Rassisten.