Wir leben in Deutschland mit über 80 Millionen Menschen, wissenschaftlich belegt ist aber, dass wir ab rund 150 Personen in einer Gruppe die Übersicht verlieren. Je größer in der Gruppe die Zahl der Personen ist, die ich nicht kenne, um so weniger kann ich mich mit ihr identifizieren, um so weniger gibt sie mir Identität.

Wir bilden also kleinere Gruppen, die sich über Gemeinsamkeiten definieren: Sport-, Karnevals- und Schützenvereine, die örtliche Kirchengemeinde, ehrenamtliches Engagement, politische Arbeit. 

Das wäre soweit gut, wenn da nicht die Angst wäre. 

Angst ist nicht konkret. Angst ist da und lässt uns aufmerksam sein, damit wir Gefahren rechtzeitig erkennen. Gefahren, die wir weiter und weiter ausmerzen.

Nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes leiden 25% aller Deutschen wenigstens einmal in ihrem Leben unter Angsstörungen.

Die Zahl an Sachverhalten, die sich zu einer konkreten Phobie ausbilden können, ist groß. Neben der bekannten Klaustrophobie – der Angst, sich in engen Räumen aufzuhalten – gibt es auch absurd klingende Phobien wie die Anatidaephobie, die Angst, von einer Ente beobachtet zu werden.

So gibt es Menschen, die Angst davor haben, von Unbekannten vergiftet zu werden. Viele glauben, dass „die“ Giftgas durch die Steckdosen einleiten. Die Angst, vergiftet zu werden (über die Nahrung zum Beispiel) ist eben eine der klassischen Schattierungen der allgemeinen, unspezifischen Angst.

Ein großes Thema in diesem Zusammenhang sind zwei Verschwörungstheorien: Die mit den Chemtrails und die, die besagt, dass Impfungen eben nicht der Immunisierung vor Krankheitserregern dienen, sondern anderen Zwecken. Oder gar keinen und einfach nur Geld kosten soll, von dem die Pharmaindustrie lebt.

Über beide hatte ich schon vor einiger Zeit was geschrieben. Beide Verschwörungstheorien zeigen quasi religiöse Züge:

Durch die globale Verschwörung einer bösen Macht – der Neuen Welt Ordnung – wird die Menschheit manipuliert und gefährdet. Wir, die „Erwachten“, haben erkannt, was los ist.

Wir haben da die Identitätsstiftung – man ist eine abgegrenzte Gruppe, diejenigen nämlich, die die Verschwörung erkannt haben.

Und wir haben einen prototypisch bösen Gegner. Die ominöse NWO ist keine konkrete Person (und wenn, dann meist der Internationale Geldadel, ein antisemitisches Klischee), sie ist aber böse. Einfach so. Was auch immer sie tut, sitzt sie hämisch kichernd in der Ecke und freut sich ob der bösen Auswirkungen auf uns.

Wer noch Angstkapazität übrig hat (weil er nicht dauernd prüfen muss, ob er vielleicht von einer Ente beobachtet wird), der kann die Angst endlich auf einen Gegner fokussieren und ihr einen Grund geben.

Dieses Bösesein ohne Grund, die Personifizierung des Bösen also, ist ein häufiges Thema und der Irrationalität unserer nicht spezifisch auf einer Gefahr beruhenden, latenten, flottierenden Angst geschuldet.

Schaut man sich Horrorfilme an, wird das besonders deutlich. Während der Wolf in Grimms Märchen wenigstens immer auf der Suche nach Futter war, wenn er Rotkäppchens Großutter fraß oder den Geislein nachstellte, ist das Böse in Horrorfilmen böse, weil es böse ist.

Zum Beispiel Saw. Der Serienkiller Jigsaw hat in diesem Film aus dem Genre des „Folterpornos“ zwar im Laufe des ersten Films ein Gesicht und einen Namen – er ist Patient eines der Opfer – aber die Intention seiner Aktionen, also was er bewirken will und warum er so ist, wie er ist, wird erst im (ich glaube) dritten Film beleuchtet.

Bis dahin reicht es aus, dass er böse ist, weil er eben böse ist. Er ist der Feind, der uns, das Publikum, eint und Identität stiftet.

So ähnlich ist das auch bei den Verschwörern: Zunächst reicht es, dass sie gesichtslos und böse sind, irgendwann phantasiert man eine passende Gruppe dazu mit einem eher abstrakten Ziel („Macht“ in einer gerade passenden Form). Hauptsache, die Gruppe hat keinen Telefonbucheintrag und kein Kontaktformular auf einer Website, um mal kurz in Kontakt zu treten.

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